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Gebärde, Wort und Ton

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Wenn über den Kunsttanz von heute etwas annähernd Allgemeines gesagt werden kann, so wäre es dies, daß er immer mehr aus dem Divertissement und der bloßen Augenweide in eine verantwortungsbewußte Kunstform hinüberwechselt. Als solche ist für ihn beim Zuschauer heute immer mehr Verständnis für seinen geistigen Gehalt nötig. Das ist wohl der Grund, warum jetzt auffallend viel über den Tanz geschrieben wird. Es erscheint billig, sich darüber klar zu werden, daß — seit man die Ballettstange als einzigen Anhaltspunkt aufgegeben hat, mithin auf die Kombination überlieferter Formen verzichtete — dem Individuum die ganze Entsdieidung über die Gestaltung überlassen wurde.

Seit vor etwa einem Menschenalter die Individualität sich befreite, sind die vielgestaltigsten Versuche unternommen worden. In ihnen spiegelte sich der Zeitgeist vielleicht noch lebhafter als sonstwo. Aber jene revolutionäre Tanzthematik einerseits und eine überzüchtete Seelenästhetik andererseits sind heute verschollen und überholt. In der Mitte dieser Pendelschläge mußte sich erst eine bleibendere Form bilden. Wien hat zu allen Zeiten verstanden, zwischen Stilextremen und modischen Auswüchsen eine Mitte zu halten. So ist es vielleicht keine Einbildung, wenn wir in einigen großen Wiener Tanzpersönlichkeiten den gültigen Versuch vielseitiger Vorstöße in alle möglichen Richtungen verkörpert sehen. Es ist innerhalb einer Generation ungemein viel geschehen. Man wird dessen gewahr, wenn man heute etwa ein Buch über Laban in die Hand bekommt. Da sieht man sie, die Väter und Mütter des modernen Ausdruckstanzes mit flatternden Haaren am Strand eines Sees, sonnenbraun und muskelfroh, und staunt, wie bald diese anfänglichen Formen sich vergeistigt haben. Einige Schülerinnen der Bahnbrecher (Laban, Wigman) sind heute Wiener Kapazitäten und haben einen mindestens ebenso bedeutenden Weg zurückgelegt.

Der Obergang von Ballettechnik zum freien, modernen Stil stellt sich in Grete Wiesenthal dar. Ihr Name ist untrennbar mit der Schöpfung eines ureigensten Walzerstils verknüpft. Es ist wohl selten, daß eine Form, die so voll und ganz aus dem bezauberndem Temperament einer Einzelnen (eigentlich einer Familie) entstand, doch in so weitem Grad schulungsmäßig weitergegeben werden konnte. Wiesenthal selbst tritt nicht mehr auf. Aber in einer Gruppe bildhübscher und ungemein begabter Schülerinnen hat sich ihre Art erhalten. Wer sie in „Rosen aus dem Süden“ oder in „Wiener Blut“ Walzer tanzen sieht, wird unwillkürlich mit lokalpatriotischer stolzer Freude erkennen, daß sie sich die ganze Verve und die besondere Grazie erhalten haben. Eine untadelige, lückenlose Technik ist da der Garant für die Tradition, die sich gewiß noch über lange Zeit auf der ganzen Welt Bewunderung verschaffen wird.

.Wenn diese Art Tanz sich in formfreudigen Wirkungen erschöpft, müssen wir daneben, um zur geistigen Evolution zu kommen, eine andre Persönlichkeit ins Auge fassen. Wir müssen von Rosalia Chla-d e k sprechen. Sie, die kein Ausläufer mehr, sondern der Beginn einer neuen Gültigkeit ist. Frau Professor Chladek versucht zunächst äußerlich auf wissenschaftlicher Basis dem modernen Ausdruckstanz eine Technik zu schaffen, die den Trainingsformen des Balletts (Battement) gleichwertig ist. An einem Schülerabend hat sie diese ihre Arbeit vor der Öffentlichkeit demonstriert. Dem Körper seine eigene, wahre Körperlichkeit zurückzugeben, bezeichnete sie als Grundprinzip der vor Augen geführten Übungen. — Dies gehört aber nur dem körperlichen Teil der tänzerischen Erziehung an. Nicht weniger intensiv wird an der geistigen und musikalischen Ausbildung gearbeitet. Auf jahrelange gemeinsame Versuche geht da oft die Formung eines Gedichtes oder Musikstückes zurück. Die Eleven werden stimmlich geschult, müssen rezitieren lernen und den subtilen Rhythmus eines Gedichtes ebenso auswerten, wie den der Musik, für das Wort ebenso eine Gebärde zu finden verstehen, wie für das Tonbild.

Über all dies hinaus aber mündet Chla-deks Art in eine Form des Tanzes, die ihn seiner sakralen Sendung, wie er sie ja in alten Zeiten hatte, zurückgibt. Die Spannweite des Wesens, die ihr dazu zur Verfügung steht, ist sehr groß. So bot ihr Programm in dieser Saison eine Gestaltung des Marienlebens. Begleitet von den zarten Melodien alter Marienlieder, wird die Jugend der Jungfrau, ihre Darstellung im Tempel, das Leiderlebnis der Schmerzensmutter und ihre endliche Verklärung dargestellt. Die naive Inbrunst mittelalterlicher Bilder würde da umsonst den Gesten ihre Vorbilder geliehen haben, wenn nicht absolute religiöse Lebenstiefe sie zur Gesamterscheinung zu verbinden verstanden hätte. Bei Chladek hat man das Gefühl, daß ihr Wesen diese uner-läßlidien Weihen empfangen hat. (Die zum Beispiel Kreutzberg in seinem „Engel des Jüngsten Gerichts“ unbedingt fehlen.) Ihre innere Entwicklung mag an einem Punkt angekommen sein, wo der Mensch zum Gefäß wird. Ein „Es“ will sich durch ihn offenbaren. (Diese Kunst ist der genaue Gegenpol der artistischen Tanzkunst, die sich „neue Nummern“ zusammenstellt.) Mit welch starkem innerem Wahrheitsgehalt sind ihre Engel Luzifer und Michael gestaltet! Zwei Wesenheiten voll urgründiger Symbolik, aus Erkenntnissen geschaut, die heute fast verloren scheinen. Nicht minder stark gestaltet sie das Schicksal der Jeanne d'Arc: „Berufung“, „Kampf“, „Sieg“, „Niederlage“, „Gericht“, „Begnadigung“. — Oft genügt die Musik nicht mehr, um das seelendramatische Geschehen zu untermalen. Sie setzt aus, und in der Stille wird die sich selbst überlassene Gebärde unmittelbare Sprache.

Aber nicht nur, um der Gebärde ganze Bedeutungskraft herauszustellen, entzieht sich der Tanz der versdiwisternden Umarmung mit der Musik. In neuerer Zeit tut er das auch, um sich der Dichtung zuzugesellen. Und das ist gar nicht so abwegig, wie es dem Laien vielleicht scheinen mag. Denn die Gebärde war am Anfang, noch bevor der Mensch Laute, Worte artikulierte. Soll es da nicht möglich sein, dem Laut, dem Wort seine Geste zurückzugeben? Im Rahmen einer Veranstaltung der Kulturvereinigung brachte Rosalia Chladek die getanzte Dichtung der „Echo-Sage“. Die ungemein reiche und schöne Sprache Greta Bauer-Sdvwinds löste die letzte Innerlichkeit der Interpretin aus. Besonders im „Dämonen-Echo“ gab es einige sehr ausdruckvoll gestaltete Themen, die sich Aug und Ohr aus der etwas zu großen lyrischen Fülle erlesen mußten. In diese Richtung hat Chladek wohl zum erstenmal so weit vorgestoßen, und man darf gespannt sein, ob anderweitig diese neu-einbezogenen Möglichkeiten aufgenommen werden. Jedenfalls gab es Anlaß zur Diskussion, ob der Tanz sich in diese Gebiete begeben solle oder nicht. Und es wurden Stimmen laut, die energisch zur Erde zurückriefen. Jene wollen nicht Geistiges gedeutet haben, sondern sinnliche Natur genießen. Dieser Anspruch ist gerecht, da seit eh und je die Natur ihre Millionengestalt dem Tanz zum Symbol leiht. (Gibt es doch keine Form der Schnelligkeit oder des dauernden Verharrens, keinen Bewegungsablauf und keinen Rhythmus, der nicht in ihr wurzelt!) So wird der Tanz auch in seinen urwüchsigeren Formen diese Verwandtschaft immer wieder erkennen lassen.

Hiemit sei ein besonders vitales Künstlertemperament vorgestellt. Es ist das der Tänzerin Hanna Berg er. Wer beispielsweise, ihren „Cavalliero“ kennt, wird ein durch den Morgen trabendes Pferd in seiner ganzen Plastik erlebt haben. Wer ihre „Mimose“ sieht, dem ist nicht nur eine Blüte auf schwankendem Stengel, sondern auch die Luft, die sie umstreicht, und das Mondlicht, das sie umspült, ja, ganz Capri, woher der Einfall stammt, vorgegaukelt. Soweit vermag Kunst zu verzaubern.

Hanna Berger hat jahrelang in Italien gelebt. Von dort brachte sie uns den verschwenderischen Glanz abgelebter Zeiten mit. Vom Atem der Antike und Renaissance ist ihre „Italienische Reise“ durdiweht. Es ist, als ob sich die Figuren des Quatrocento und des Cinquecento aus ihren Rahmen gelöst hätten, um sich in den Geist und das Temperament eines Menschen der Gegenwart zu ergießen. So nahm Venezianos Porträt in der „Dogaressa“ Gestalt an, so belebte sich Botticellis Flora in der „Primavera“ und das Rom der leidensdiaftsbesessenen und schönheitstrunkenen Päpste verkörpert sich in der „Tyrannin“. Hier kommt ein ganz l ssonderer Geschmack zu geradezu eklektischen Formen. Was diese aber über ihre ästhetischen Qualitäten hinaus kostbar macht, ist der unbesiegbare künstlerische Wille, der ihnen durch alle Härten der Zeit in einsamer, innerer Behütung den Bestand sicherte. Denn den subtilen Gestaltungen dieser Künstlerin stehen Schwestern aus Blut und Tod zur Seite, Schöpfungen aus dem KZ von erschütterndster Tragik. Hier ist die tänzerische Berufung wie eine Leuchte durch alle Bedrohungen durchgetragen worden und der Schönheitssinn eins mit dem Verlangen, anderen Menschen durch die Kunst zu dienen.

Fast scheut man sich, daneben noch jene andere Kunst zu zitieren, die nur zu gefallen strebt. Und doch ist der Tanz noch nicht ausgeschöpft. Noch hätten wir all jene vor uns zu rufen, die die Pantomime, die Burleske und Caprice bringen, aber auch die Phantastik und die Dämonie tänzerisch gestalten.

Nicht nur körperlich überragend steht da Harald Kreutzberg vor uns: der Schleichtrittige, der Narrenseilige, der Veitstänzer und Vagabund, der Henkers-Kreutz-berg. Im Widerspiel des Sakralen sind seine Gestakungen überall dort zu schätzen, wo sie die verschiedensten Arten der Besessenheit und der Narretei ausdrücken. Kein Zufall, daß hier die Maske und das Traumgesicht ihre Rolle spielen. Ein Untergründiges, ein vielgestaltig Spukhaftes, faszinierend oder trunken und närrisch, bezieht es seine Farben und Formen aus den Bereichen nächtlicher Phantastik.

Auch hier steht eine ganze Persönlichkeit dahinter. Und Kreutzberg hat sich in vielen Gestaltungen eine Einmaligkeit gesichert, die ihm unbestritten bleiben wird. Zwischen Laune und Vision wären da aus seinen letzten Abenden exzellente Schöpfungen, wie „Li-Tai-Pe“, „Der böse Traum“ oder sein „Phantastischer Walzer“ nach E. T. A. Hoffmann zu nennen. Auch für seine neuen Tänze ist das Interesse in breitesten Kreisen verbürgt.

Wir dürfen sagen, daß der Tanz trotz des Krieges mit all seinen Hemmnissen sich vielversprechend weiterentwickelt hat. Ohne einer Intellektualiserung, die ihm schaden würde, zu verfallen, soll ihm auf seinem problemreichen Weg die Begleitung eines immer breiter sich entfaltenden Verständnisses zugesagt sein. Denn er ist der größten Wunder eines, und seine Geschenke sind Erhebung und Freude.

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