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Gehalt und Gestalt

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Als Symbol der Vollkommenheit, immer wieder zum Gegenstand mathematischer und kunstphilosophischer Betrachtungen gemacht, gilt die Gestalt der Kugel. Sie hat im Verhältnis zu ihrem Raumgchalt die kleinste Oberfläche. Setzt man — indem wir diese Relation auf das Gebiet der Kunst, insbesondere das der Musik übertragen — an die Stelle des Rauminhalts den thematischen und musikalischen Gehalt, an Stelle der „Oberfläche“ den äußeren Umfang und die Klanggestalt eines Musikwerkes, so haben wir wohl einen Maßstab, nach welchem sich — die richtige Bewertung dieser beiden Komponenten vorausgesetzt — interessante Aufschlüsse über die künstlerische Vollkommenheit gewinnen lassen.

Das erfolgreiche Streben der „klassischen“ Künstler war es, zu vereinfachen, zu komprimieren, eine gültige Formel zu finden: auch Kompliziertes einfach zu sagen. (Die Regel von den drei Einheiten im Drama ist der schulmäßige und sinnfällige Ausdruck der klassisdien Kunstauffassung.) In der symphonischen Musik findet diese Ästhetik ihren Ausdruck in der konzisen Form der einzelnen Sätze eines Werkes, im sogenannten Sonatensatz und in der Symphonie, etwa von Hkydn bis Brahms. Zwar vergrößern sich der Umfang und der Aufführungsapparat, doch ist bei den grollen Meistern, die in dieser Reihe stehen, deutlich das Streben zu erkennen sich nur die unbedingt notwendigen Erweiterungen zu gestatten. Besonders deutlich wird dies in der Instrumentierung. Noch bei Beethoven und Brahms ist sie so unauffällig und selbstverständlich, daß sie nur wie das gutpassende und vollkommene Gewand für den Gehalt wirkt, so daß man wohl die hohe Kunst dieser Meister, niemals aber ihre Instrumentierungskünste rühmen wird. Gehalt und Klanggestalt sind eine untrennbare Einheit.

Beglückend erlebt man dieses Wunder in Beethovens Klavierkonzert G - d u r, in welchem auch der Part des Soloinstruments auf so natürliche und selbstverständliche Weise in das musika-liche Geschehen einbezogen ist daß nur ein Musiker, nicht aber ein Virtuose ihm ganz gerecht zu werden vermag. Wilhelm Backhaus, der Solist im sechsten Konzert der Wiener Symphoniker unter Hans Swarowskv vermittelte uns einen echten Beethoven: Pathos ohne Emphase, Gefühl ohne eine Spur von Sen-timent, Klarheit ohne Nüchternheit und moderne' Sachlichkeit. Klarheit vor allem: der Linie und der Form.

Als klassischer Meister in dem ingedeuteten Sinne erscheint uns auch Brahms, dessen vier Symphonien uns heute näher stehen, als viele Werke der folgenden Generation. Auch er — ein Meister in der Beschränkung. Im Gefühlsmäßigen weder Nüchternheit noch Ekstase, im Klanglichen weder Askese noch Schwelgerei: die Mitte, das Maß Niemals wird der Musiker aufhören, den edlen Gehalt und die Vollkommenheit dieser Werke zu bewundern. Richtige Brahms-Interpretation im Sinne einer werkgerechten Wiedergabe ist schwierig. Wir sind gewohnt. ihn akademisch oder romantisch zu hören. Hans Knappertsbusch bringt die Erste dramatisch bewegt, abwechslungsreich, und zwar nicht nur in dynamischer Hinsicht, sondern auch mit jenen ständig wechselnden Zeitmaßen, jenen kleinen Temporückungen, die für Brahms so charakteristisch sind. In dem Bestreben, alles zu intensivieren und recht deutlich zur Geltung zu bringen, dehnte Knappertsbusch die zwei Mittelsätze der ITT. Symphonie bis an die Grenze des betreffenden Zeitmaßes. Hiebei reichte die innere Spannung des Dirigenten oder der Musik nicht an allen Stellen aus. Seine Interpretation der I. Symphonie gehört zum Besten, was wir in dieser Konzert-soielzeit hören durften. Knappertsbuschs Technik ist eigenartig und hochinteressant: der Dirigent setzt gleichsam voraus,daß das Orchester nach vorausgegangener Probenarbeit auch ohne ihn das Werk ausgezeichnet zu spielen vermag. (Da die W i ener Philharmoniker die Ausführenden waren, ist diese Annahme richtig.) Er begnügt sich im wesentlichen damit, das Orchester in seinen Intentionen zu bestätigen und an entscheidenden oder technisch heiklen Stellen einzugreifen. Diese an sich natürliche, aber ungewohnte Art der Führung hat für den Zuhörer zunächst einen Nachteil: sie lenkt ihn von der Musik ab und zu sehr auf die Interpretation, den Dirigenten.

Das letzte Konzert des Pro-ArteZyklus führte bis an die Schwelle der Gegenwart, bis zu Schönbergj Frühwerk „Verklärte Nacht“ (1899) und den drei Fragmenten aus Alban Bergs Oper „Wozzek“ (1922). Das für die vergangene Epoche bezeichnendste Werk aber war die „S i n f o n i a d o m e s t i c a“ von R i-chard Strauß. Diese symphonische Dichtung schildert bekanntlich Gestalten und Episoden aus dem eigenen Familienkreis des Komponisten. Die angemessene Form für ein solches Sujet — wenn wir es als ein der musikalischen Gestaltung würdiges gelten lassen wollen — wäre ein Divertimento in knappen Sätzen für ein kleines Orchester — höchstens. Strauß aber präsentiert dies kriegerische Familienidyll in Form einer gewaltigen symphonischen Dichtung und bietet ein Riesenorchester von über hundert Mann auf, welches genügen würde, einen Weltuntergang zu illustrieren.Die „Domestica“ ist vielleicht das sinnfälligste Beispiel für unadäquate Gestaltung in der Form und im Material und kann nur mit den schlimmsten Verirrungen des wilhelminischen Kunstgewerbes verglichen werden. Noch peinlicher berührt die fehlende Inspiration und eine bei diesem Meister erstaunliche Armut an plastischen Themen. Mit diesem Werk verglichen ist der „Zauberlehrling“ von Dukas geradezu gehaltvoll und formvollendet, ein wirkungsvolles Virtuosenstück für Orchester. Die Wiedergabe beider Werke durch die Symphoniker unter Rudolf Moralt war glänzend. Es wurde mit ein^m Temperament und einer Hingabe musiziert, die eines gehaltvolleren Werkes würdig gewesen wären. Das Konzert endete — wie der Dreißigjährige Krieg — mit der vollkommenen Erschöpfung aller Beteiligten: der Ausführenden und der Zuhörer.

Im Festkonzert zum Jahrestag der Befreiung Wiens dirigierte John Barbirolli, England, die Wiener Philharmoniker Zwischen der V. Symphonie von Schubert und der IV. von Tschaikowsky spielte der Londoner Pianist Kendall Taylor das III. Klavierkonzert von Prokofi e f f. Dieser vielseitige und geistvolle russische Komponist, welcher der mittleren Generation angehört, war einst bei der Avantgarde der neuen Musik und ist heute der Vertreter einer gemäßigt modernen Richtung. In dem Bestreben, volkstümlich zu schreiben, hat er während der letzten Jahre einige Werke geschaffen, die gegenüber seinen früheren etwas abfallen. Mit dem III. Klavierkonzert zeigt sich Pro-kofieff wieder auf der alten Höhe. Doch ist es auch nach diesem Konzert schwer, sich von der Persönlichkeit des wandlungsfähigen Komponisten eine kla-e Vorstellung zu machen. Seine Stärke liegt im prägnanten rhythmischen Einfall, im tänzerischen Schwung, in der lebhafrei Bewegung seiner Ecksätze. Darin ist er Meister, ebenso in der geistvollen, immer klaren Instrumentierung Die beiden englischen Künstler waren dieser unpathetischen, unromantischen Musik ganz ausgezeichnete Interpreten. Gehalt, Form und Wiedergabe stimmten auf fast vollkommene Weise überein. Dr. H. A. Fiechtner

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