Genialer Goldesel: 500 Jahre Leonardo-Kult

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Fünfhundert Jahre nach seinem Ableben ist Leonardo da Vinci der unangefochtene Superstar unter den Geistesgrößen, ein milliardenschwerer Goldesel. Ein veritabler Zweig der Kulturindustrie lebt heute von der Beschwörung seines Genies - des größten, das die Menschheit hervorgebracht haben soll. Von Leonardos Ruhm zehren Verlage und

Museen, Autoren, Restauratoren, Wissenschaftler, Filmemacher und nicht zuletzt Kunsthändler. Für schwindelerregende 450 Millionen Dollar kam Ende 2017 in New York eine Holztafel mit dem Antlitz des "Salvator Mundi" unter den Hammer.

Das ist mit Abstand der höchste Preis, der je für ein Gemälde erzielt worden ist, und dabei sind sich die Kunsthistoriker nicht einmal einig, ob Leonardo selbst den Pinsel geführt hat oder einer seiner Mitarbeiter. Dem solventen Käufer - angeblich legte ein saudischer Prinz den Betrag aus - scheint es einerlei gewesen zu sein, womöglich aber nicht dem Louvre Abu Dhabi, wo der "Weltenretter" eigentlich seit Herbst 2018 hätte zu sehen sein sollen. Das Museum hat die Präsentation ohne Begründung bis auf Weiteres abgesagt.

Mit der Zuschreibung von Leonardos Werken ist es ohnehin so eine Sache. Nur ein gutes Dutzend gilt als gesichert, darunter Ikonen der Kunstgeschichte wie das bröckelige Mailänder "Cenacolo" und die "Mona Lisa" zu Paris, die ihre sechs Millionen Besucher im Jahr durch eine Panzerglasscheibe anlächelt. Im Gegensatz dazu ist etwa die Authentizität des weitverbreiteten "Turiner Selbstporträts", das Leonardo als greisen Philosophen mit Rauschebart vorstellt, unter Fachleuten stark umstritten.

VISIONÄRE GEDANKENWELT

Nicht gar so tief wie die Kunstliebhaber am Persischen Golf musste ein anderer erklärter Leonardo-Fan in die Tasche greifen: Bill Gates erstand 1994 eines der Notizbücher des Renaissance-Künstlers, den "Codex Leicester", um rund 31 Millionen Dollar, auch dies ein Weltrekord. Seinen Ruf als Universalgenie verdankt Leonardo mehr noch als seiner Malerei den Notizbüchern, die auf gut 7000 Seiten Einblick in die Gedankenwelt ihres Autors geben - eine Gedankenwelt, die im Kontext ihrer Zeit wahrlich revolutionär anmutet. Hier finden sich all die visionären Entwürfe für Fluggeräte, Kriegsmaschinen, Unterseeboote und andere innovative Apparaturen, deren Nachbauten man heute in Wanderausstellungen bestaunen kann.

Zwar gelten die Notizbücher im Wesentlichen als Autographen des Meisters, doch ist auch bei ihnen Vorsicht geboten, denn sie gingen nach Leonardos Tod am 2. Mai 1519 durch viele Hände. So dürfte die Skizze eines Fahrrads, die 1974 im Mailänder "Codex Atlanticus" entdeckt wurde, von einem italienischen Restaurator eingefügt worden sein, der seinem berühmten Landsmann damit, 300 Jahre vor dem Freiherrn von Drais, die Urheberschaft für dieses sympathische Vehikel zukommen lassen wollte.

ZEITALTER DER ERFINDUNGEN

Nach einem Gleichnis des russischen Dichters Dmitri Mereschkowski, das Sigmund Freud populär gemacht hat, war Leonardo "wie ein Mensch, der zu früh erwacht ist: alle schlafen und um ihn ist Finsternis". Doch verstellt der Kult um das einzigartige Genie den Blick darauf, dass das sogenannte Mittelalter, zumal das spätere, überhaupt reich an Erfindungen und der große Kunsthandwerker aus der toskanischen Gemeinde Vinci keineswegs der einzige Tausendsassa seines Zeitalters war. Man denke an die Geschützgießerei, den Buchdruck oder die Zentralperspektive, um nur einige Errungenschaften des 15. Jahrhunderts zu nennen, oder an Francesco di Giorgio aus Siena, der nicht nur wie Leonardo als Maler, Ingenieur und Schriftsteller brillierte, sondern auch als Architekt und Bildhauer.

Freilich ist die leidenschaftliche Neugier, mit der sich Leonardo den vielfältigsten Themen widmete, atemberaubend. Bekannt sind etwa seine anatomischen Studien, für die er um die 30 Leichen seziert haben soll. Damit brüskierte er seine Zeitgenossen, aber nicht wegen der Leichenöffnung an sich -diese war seit dem 14. Jahrhundert in Europa gängige Praxis -, sondern weil zu Leonardos Zeit so viele neugierige Anatomen einen Blick in das Innere des menschlichen Körpers werfen wollten, dass die Studienobjekte knapp wurden und Nachschub auf illegalem Weg organisiert werden musste.

Neben den Zeichnungen enthalten Leonardos Notizbücher zahllose Texte aus seiner Feder, allesamt in Spiegelschrift - vielleicht weil der Autor Linkshänder war. Die Texte, überwiegend unzusammenhängende Aperçus und Fragmente, behandeln eine unüberschaubare Anzahl von Themen, angefangen von der Malerei über alle denkbaren Aspekte der Naturphilosophie bis hin zum Vokabular des Lateinischen. Latein beherrschte der 1452 Geborene nicht, weil er von der Elementarschule direkt in die Werkstatt des Florentiner Malers Andrea del Verrocchio gewechselt war. In den Augen der Gebildeten seiner Zeit war das ein Makel. Einige Leonardo-Biographen meinen daher, dass der Künstler unter einem Minderwertigkeitskomplex litt und dass hinter seiner demonstrativen Verachtung für die Buchgelehrsamkeit, der er die Erfahrung als einzig wahre Lehrmeisterin entgegenstellte, eine gehörige Portion Trotz steckte.

Dass Leonardo ein Nonkonformist war, der seinen Status als Außenseiter kultivierte, darin sind sich seine Biographen heute einig, ebenso dass er die Religion verachtete wie auch den Krieg, obgleich er religiöse Sujets gemalt hat und während seiner zentralen Schaffensperiode beim Mailänder Herzog Ludovico il Moro als Kriegsbaumeister angestellt war. In den vergangenen Jahren hat sich die historische Forschung verstärkt dem Schriftsteller Leonardo zugewandt und in seinen Aufzeichnungen so manches Detail aufgestöbert, das den Menschen hinter dem Genie erahnen lässt, so etwa die hingekritzelte Bemerkung, dass er die Arbeit unterbrechen müsse, "weil die Suppe kalt wird"(vermutlich eine Minestrone, die seine Haushälterin Maturina gekocht hatte, denn der späte Leonardo war Vegetarier). An anderer Stelle notierte sich der alternde Adonis, der eine Schwäche für extravagante Kleidung, bevorzugt in Pink, und schöne junge Männer hatte, ein Rezept zum Haarefärben.

Mitnichten dazu geeignet, das Genie von seinem Sockel zu holen, machen solche Anekdoten die Kunst-Figur Leonardo da Vinci nur noch anschlussfähiger, und so ist anzunehmen, dass sich das Mehrgewinnschöpfrad auch zu ihrem Jubiläum kräftig weiterdrehen und manch Erstaunliches zutage fördern wird. So gibt es neben Restaurants, Hotels und Schulen, einer Rose, einem Flughafen, einem Mondkrater, einem EU-Bildungsprogramm und einem endoskopischen Operationsroboter sogar schon einen "Schnittkäse mit Rotschmierkulturen", der Leonardo da Vinci heißt. Unterdessen arbeitet das J. Craig Venter Institute eifrig an der Identifizierung von Leonardos DNA-Profil, "um seine außerordentlichen Talente und Sehschärfe durch genetische Assoziation besser zu verstehen". Man darf also gespannt sein.

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