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GERÄUSCHE, MUSIK, SPRACHE.

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Die Vorgeschichte des Hörspiels lassen einzelne Interpreten irgendwann in nebeliger Urzeit einsetzen; zur Illustration verweisen sie dabei auf die Magie des Hörens bei noch lebenden Wilden. Auf diesem Weg entwickeln sie dann über den blinden Rhapsoden Homer, den stabenden Skalden, über Goethes Rhapsoden hinter dem Vorhang, über die Lautsymbolik der Romantik und Rilkes „Urgeräusch“ eine Verbindung bis zu dem 15. Jänner 1924, jenem Tag, an dem die Geschichte des Hörspiels beginnt. An diesem Tag ist das erste originale Hörspiel vom Londoner Rundfunk gesendet worden. Es heißt „A Comedy of Danger“. Sein Autor ist der Dramatiker Richard Hughes. Das erste deutsche Originalhörspiel ist am 21. Juli 1925 vom Sender Breslau gebracht worden, es heißt „Spuk“ und sein Verfasser ist Rudolf Gunold. Vor diesen ersten Originalhörspielen, aber auch noch lange Zeit nachher, hat man Theaterstücke mit Regieansagen und Pausengong übertragen. Akustische Experimente haben weitergeführt zu Hörspielen, in denen faszinierende Geräusch- und Musikeffekte überwogen. Des Spiels mit solchen Gags und Effekten wahrscheinlich müde geworden, entdeckte man dann neuerdings die dritte Möglichkeit des Funks: die Sprache. Mit dem Schwergewicht auf der Sprache ist nun das Hörspiel nicht nur noch den Rundfunkangestellten, sondern auch dem großen Kreis freier Schriftsteller und Dichter zugänglich geworden So wächst, etwa vom Jahre 1927 an, die Zahl der Hörspiel-schriftsteller rasch an. Dramatiker, zum Beispiel wie Billinger, Czokor, Rehberg, Weisenborn, schreiben in'dieser Frühzeit des Funks Hör-“' spiele. Die dreißiger Jahre und der Krieg bringen auch dem künstlerischen Hörspiel die bekannte Beschneidung. Nach 1945 aber führt ein nun technisch vollkommenes Instrument das Hörspiel zu künstlerischen Höchstleistungen. Als Marksteine in der Geschichte des Hörspiels nach 1945 werden immer wieder genannt: des frühverstorbenen W. Borcherts „Draußen vor der Tür“ (1947) und Günter Eichs „Träume“ (1950). Günter Eich, Ilse Aichinger, Friedrich Dürrenmatt, Ingeborg Bachmann, Fritz Habeck, Wolfgang Hildesheimer, Erwin Wickert, Fred von Hoerschelmann, Heinrich Boll sollen hier für viele der in unseren Tagen in verschiedensten Schichten bekannten Hörspielautoren stehen. Die wachsende Volkstümlichkeit des Hörspiels läßt den Norddeutschen Rundfunk zum Beispiel im Winter auf der Mittelwelle mit drei bis vier Millionen Hörern bei einem einzigen Spiel rechnen. Diese Breitenwirkung erlaubt es, Hörspiele auch in Buchform erscheinen zu lassen.

Das Hörspiel als Gebilde zeigt sich uns, streng positivistisch gesehen, zuerst einmal als ein mehr oder weniger voluminöser Lautleib, der durch verschiedene Funktechniken konturiert und gegliedert worden ist.

Diesen Lautleib des Hörspiels bilden Geräusche, Musik und Sprache. Es gibt eindeutige Geräusche, wie: Hufgetrampel, Öffnen und Schließen von Türen, Hupen, Windheulen, Dampfpfeifen u. a. und mehrdeutige Geräusche, wie Rascheln von Cellophan, die eine Identifikation benötigen. Geräusche können beschreiben, aber auch symbolisieren und stilisieren. Musik wiederum kann ein Stück umrahmen und als Szenenbrücke dienen, Musik kann im Vordergrund oder Hintergrund einer Szene klingen, beschreiben, punktuieren, kommentieren und eine bestimmte Stimmung verbreiten. Sprache dagegen kann gebunden oder ungebunden, sie kann monologisch (als Ich- Du- oder Er-Erzäh-lung) oder dialogisch gegliedert werden. Sie kann visuelle Vorstellungen stiften, sie kann aber auch in mehr oder weniger unanschaulichen Abstrakta verweilen. Dabei können die Sprechstimmen wie Singstimmen eingesetzt und geführt werden. Die Sprechstimme kann bei Ergriffenheit des Hörers eine sehr leibhafte Personvorstellung auslösen, sie wird dagegen aber im kühlen Hörspiel als entkörperte und abgezogene Stimme erlebt werden.

Die Technik des Hörspiels umfaßt alle Möglichkeiten der Rundfunkapparatur, die nach Helmut Jedele die Produktivität des Rundfunks ausmachen. Zum Beispiel: Mit der Blende wird ein Leiser- und Lauterwerden bewirkt; sie kann raumzeitliche Übergänge stiften. Durch den Filter wiederum werden Geräusche, Musik und Stimmen unvollständig wiedergegeben. Gefilterte Stimmen klingen wie Telephonstimmen und können eine „innere Stimme“, eine unwirkliche Stimme imaginieren. Faszinierend sind auch die verschiedensten Echoeffekte; so kann eine hallende Stimme wie die übernatürliche Stimme der Menschheit erlebt werden. Grotesksurreale Wirkungen lassen sich mit dem Sonovox-Gerät erzielen, das Geräusche oder Musik so artikuliert, daß zum Beispiel ein Lokomotivgeräusch „Gute Reise! Gute Reise!“ sprechen kann. Laufzeitverände-rungen, die verdumpfen und aufhellen, ergeben ebenfalls interessante Effekte. Der Schnitt ermöglicht die Montage und damit die willkürliche Organisation und Gliederung einer Tonaufnahme. Kopierbarkeit und unbegrenzte Wiederholbarkeit einer Tonaufnahme, Poli-mikrophonie, „Play-back“-Technik, Mehrspurmagnettongeräte und die verschiedenen Stereophonieverfahren erlauben eine Fülle von sinnlichen und stilisierenden Effekten.

Los aller Technik scheint es aber zu sein, als bloße Spielerei, als bloßes Handwerkzeug bespöttelt zu werden. So spricht man über Hörspieltechnik auch meist nur abfällig, denn im Hörspiel geht es ja nicht um eine Technik, sondem um das „Dichterische“. Wo aber stünde heute Kunst ohne Kenntnis der Freskotechnik, der Mosaiktechnik, der Lazurmalerei, der Temperamalerei usw.?

Der Lautleib ist das Material der Hörspielgestalt. Die Hörspieltechnik ist ein Bearbeitungsverfahren zu diesem Material. Technik des Hörspiels, Sujet und Hörspieldramaturgie gestalten und organisieren diesen Lautleib, dieses Material zu ■einer von den verschiedenen'möglichen Hörspielgestalten.

Das Sujet des Hörspiels kann den verschiedensten Stoffbereichen angehören. Seltener werden historische Themen, dagegen häufiger zeitgeschichtliche, zeit- und gesellschaftskritische Stoffe abgehandelt. Es gibt Hörspiele, die das Dasein zu deuten versuchen, undes gibt eine sehr große Zahl von Speisen, die das Irreale und Wunderbare in ihren Mittelpunkt rücken. Dabei zeigt sich, wie sehr wir, tief im 20. Jahrhundert, noch der Motivik und dem Wirklichkeitsschema der Romantik verhaftet sind. Morgenkühle Sachlichkeit, die wir bei einzelnen Malern schon finden, fehlt hier im Hörspiel so gut wie gänzlich.

Die Hörspieldramaturgie ist wie jede Dramaturgie, ob sie nun eine des Films, Theaters oder Fernsehens ist, eine Inhaltsdramaturgie. Sie gibt Übungsanweisungen zur Organisation des Stoffes, sie ist, verglichen mit Malerei, Kompositionslehre, die über mögliche Spannungsverläufe und Beziehungsfaktoren unterrichtet. Verwendet werden im Hörspiel das aristotelische Fabelschema, der analytische und synthetische Handlungsverlauf, die finale Reihenfolge, das Planetenschema und mehr oder weniger lose assoziative Verknüpfungen. Arno Schmidt bietet dem Erzähler sogar ein Organisationsschema an, das er dem Erinnerungs-prozeß und Vorstellungsverlauf nachgebildet hat. Dramaturgische Regeln sind Sach- und Denkschemata, die man wohl studieren und üben kann, die sich aber im Ernstfall wohl immer in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand herausbilden müssen.

Ist das Hörspiel nun der dramaturgischen Dichtung, der epischen oder lyrischen Dichtung zuzuordnen? Wir verwenden hier zum erstenmal ein Kriterium, durch das wir das Hörspiel der dramatischen Dichtung zuordnen können. Bei diesem Kriterium handelt es sich um ein von Friedrich Schiller geprägtes Hilfsmittel zur Unterscheidung von epischer und dramatischer Dichtung. Schiller schreibt: „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehen. Nach meinem Bedünken liegt viel in diesem Unterschied. Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit, es entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir, ich muß immer beim Objekte bleiben, alles Zurücksehen, alles Nachdenken ist mir versagt, weil ich einer fremden Gewalt folge. Bewege ich mich um die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich einen ungleichen Schritt halten, ich kann nach meinem subjektiven Bedürfnis länger oder kürzer verweilen, kann Rückschritte machen oder Vorgriffe tun“ usw.

Meine experimentalpsychologische Untersuchung („Das Hörspiel in der Vorstellung des Hörers“ 1959) hat gezeigt, daß der Hörer diesem Zwang des Objektes, dieser Gewalt der Handlung nachgeben, aber sich auch entziehen kann. Wir unterscheiden demnach zwei Hörstile: das Nur-Hören und das phantasierende Hören. Ein Nur-Hören ist ein den Worttext fixierendes Hören, ein Hören mit offenen Augen, ein erlebnismäßiges Mitgerissenwerden und abstandloses Hören. Die Phantasietätigkeit des Hörers ist dabei ganz zum Schweigen gebracht, sie hat ihre Freiheit verloren. Dagegen ist das phantasierende Hören ein unaufmerksames, ganzheitliches Hören, ein Hören mit geschlossenen Augen, ein Hören, während dessen der Hörer schon ermüdet ist, ein Hören, bei dem eben sehr lebhafte visuelle Vorstellungen aufsteigen, bei dem die Phantasie des Hörers ihre Freiheit behält. Der Hörer nimmt sich sozusagen die Freiheit, steigt aus und phantasiert:

Das sind also •Reaküonsmöglichkeitert, die sich dem- Betrachter eines ich bewegenden Objektes bieten, seiner Phantasie die Freiheit zu erhalten. Sie gelten vor allem für das erstmalige Aufnehmen und Hören. Bei Wiederholungen und interpretatorischem Eindringen in ein Werk werden Gemüt und Phantasie des Hörers in wachsendem Maße Freiheit gegenüber dem sich bewegenden Objekt erringen.

Es besteht aber noch die Möglichkeit, daß der Autor in seinem Werk diese Freiheit mitorganisiert und mitvorbereitet. Für den Dramatiker Schiller wird eine Tragödie gerade durch eine solche Organisation, durch eine solche Gestaltung zur Dichtung.

Der Hörspielautor vermag dem Gemüte seines Zuhörers diese poetische Freiheit durch die verschiedensten Maßnahmen zu gewähren. Solche sind alle Episierungen, Stilisierungen, wie sie zum Beispiel ermöglicht werden durch: Blende. Filter, Echo, Sonovox. Laufzeitverände-rungen. Schnitt, Montage, Betonung der Wiederholbarkeit, fühlbare Stoffgliederungen, gleichgültig, ob sie nun nach dem aristotelischen, antiaristotelischen oder nach einem völlig anderen Schema vollzogen worden sind. Es sind also alle artifiziellen Eingriffe, durch die der Hörspielautor die individuell auf uns eindringende Wirklichkeit von uns entfernt haltet, und zwar nicht immer der Phantasie, doch dem Gemüte dabei eine poetische Freiheit verschafft.

Unsere Hörspieluntersuchung hat auch gezeigt, daß wahrscheinlich Szenenstücke, das sind nach unserer Bestimmung Stücke, die mehr die ruhende und stehende Dingwelt einbeziehen, der Phantasie des Hörers Freiheit geben, daß dagegen Personenstücke, die mehr zwischenmenschliche Probleme abhandeln, ein vorstellungsarmes Nur-Hören begünstigen.

Schließen wir mit Schiller: „Die Dichtkunst als solche macht alles Gegenwärtige vergangen und entfernt alles Nahe (durch Idealität), und so nötigt sie den Dramatiker, die individuelle auf uns eindringende Wirklichkeit von uns entfernt zu halten und dem Gemüt eine poetische Freiheit gegen den Stoff zu verschaffen, Die Tragödie in ihrem höchsten Begriffe wird also immer zu dem epischen Charakter hinaufstreben und wird nur dadurch zur Dichtung. Das epische Gedicht wird ebenso zu dem Drama herunterstreben und wird nur dadurch den poetischen Gattungsbegriff ganz erfüllen, just das, was beide zu poetischen Werken macht, bringt beide einander nahe.“

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