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Gesiegelt und verbrieft

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DER PUBLIC-RELATIONS-MANN eines großen Unternehmens bekam von seinem Generaldirektor den Auftrag, für einen zu Besuch weilenden leitenden Herrn der ausländischen Schwesterfirma ein ebenso passendes wie typisch österreichisches Abschiedsgeschenk auszusuchen. Nach einigem Nachdenken nahm seine anfangs etwas unklare Vorstellung von etwas „Antikem“ schärfere Umrisse an. Er ließ sich von der Sekretärin mit einer kunstgewerblichen Spezialwerkstätte verbinden, und alsbald lag das Präsent zur unverbindlichen Ansicht auf der dunkel schimmernden Platte seines repräsentativen Schreibtisches: ein

Schönes, ledernes Album mit gewichtiger Schließe. In kupferfarbenem, patiniertem Metall war das große Siegel Herzog Rudolfs IV., des Stifters, originalgetreu wiedergegeben und verlieh dem Band des gewünschte histo rische, foliantenhafte Aussehen. De: Generaldirektor zeigte sich mit der Wahl einverstanden, und der beflissene Referent ließ auf die Albumblätter schön säuberlich die Photos vom Verlauf des Besuches kleben: Ankunft des Gastes auf dem Flugfeld, Empfang in der Direktion, Fabrikbesichtigungen und — last, not least — das Diner im Schloßhotel von K., wo man bei Kerzenlicht, zwischen gotischen Heiligen, Scherenstühlen und Wappenfenstern goldene Worte über die Verbundenheit der Konzernfirmen ausgetauscht hatte. Diese Denkwürdigkeiten waren nun in deni ledernen Wälzer fixiert, und in sinniger Weise eröffnete der geharnischte Herzog auf dem Siegel gleichsam als Vorreiter die Reihe der Bilder vom Trip nach Vienna.

Souvenirs. Souvenirs, na schön. Doch ein kleiner, sachlicher Einwand ist wohl gestattet: Siegel aus vollem Metall gab es nie in Österreich, und außerdem hat ein Siegel eben eine andere Funktion als eine Buchschließe. Aber wen kümmert das schon?

DIE SIEGELKUNDE ODER „SPHRAGISTIK“ gehört mit der ihr eng verwandten Heraldik und der Genealogie zu der Gruppe der „Historischen Hilfswissenschaften“, die ein Semester lang am Institut für österreichische Geschichtsforschung gelehrt werden. In der Praxis beschäftigen sich Archivare und private Sammler mit diesem etwas ungewöhnlichen Gebiet historischer Arbeit, Schon vor dem ersten Weltkrieg beklagte Egon v. Berchem, einer der Methodiker der Siegelkunde, daß die kulturgeschichtliche Bedeutung der Sphragistik viel zuwenig gewürdigt werde. Anderseits hat sich die Vorliebe für historisch aufgemachte Urkunden bis in unsere Tage erhalten. Große und kleine Körperschaften freuen sich an Pergamentimitationen, an mißverstandener Heraldik und möglichst eindrucksvollen, großen, roten Siegeln, und wenn auch nur die Abzeichen des Gesangvereins darauf eingeprägt sind.

Die lebendige Sphragistik, der Brauch, Urkunden zum Zeichen ihrer Rechtskraft zu besiegeln, ist im Raum des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mehr als tausend Jahre alt. Kaiser und Könige führen seit etwa Anno 800 Siegel, im

10. Jahrhundert begann auch der hohe Klerus und der hohe Adel zu siegeln, und im Laufe der Zeit folgten Städte, niederer Adel, niedere Geistlichkeit, Bürger, ja sogar Bauern dieser Gepflogenheit.

Als Material für Siegel verwendete man vorwiegend Wachs. Die Siegel des frühen Mitfcelalters zeigen noch die gelbbraune, natürliche Tönung, später aber, als die Anfertigung von Siegeln zu immer größerer handwerklicher und künstlerischer Spezialisierung führte, begann man das Siegelwachs zu färben. Durch Zusatz von Grünspan wurde ein dunkles, mattes Grün erzielt, die bevorzugte Farbe der Geistlichkeit, der Städte und der Bürger. Seltener ist die Beimischung von Ruß, schwarze Siegel führten vornehmlich die Ritterorden, während das bekannte rote Siegel ein Privileg darstellte, dessen Verleihung nur dem Herrscher zustand. Ein rotes

Siegel zu haben war Prestigesache und enstpricht ungefähr — dieser Ausspruch stammt von einem Archivar — dem heutigen Bemühen um die Erlangung einer niederen Autonummer. Die sogenannte „Rotwachsfreiheit“ mußte teuer erkauft werden, man wog gewissermaßen den Zinnober, den man fortan in sein Siegelwachs tun konnte, mit blankem Gold auf. Denn der Kaiser erkannte die gute Einnahmequelle, die ihm durch menschliche Geltungssucht eröffnet wurde, und so gab beispielsweise Friedrich III. zahlreichen Standespersonen nach Erlag der Taxen das Recht, „dass sy und ir nachkommen alle und jegliche ire briete mit rotem wachs sigln mügen“.

WÄHREND LUDWIG DER DEUTSCHE ein Siegel von nicht einmal fünf Zentimeter im Durchmesser führte, prangen an den Urkunden Kaiser Leopolds I. Scheiben von 13 Zentimeter Länge. Mit der weltlichen Macht wuchsen auch die Dimensionen des Siegels. Neben der gebräuchlichen kreisrunden Form finden sich nicht selten wappenförmige Siegel und die Spitzovale mittelalterlicher Klöster und Kirchenfürsten.

Ursprünglich wurde das Siegel auf das Pergament der Urkunde selbst aufgedrückt, entweder unterhalb des Textes oder auf der Rückseite. Später ging man zu der heute allgemein als typisch geltenden Anbringungsart de Hängesiegels über, das an Pergament- streifen, Lederriemen oder Schnüren befestigt wurde. Farbe und Material der Schnüre, sei es Hanf, Seide oder Goldgespinst, richtete sich nach dem Rang des Ausstellers und dem Grad der Feierlichkeit. So sandte zum Beispiel Königin Christine von Schweden eine Urkunde nach Wien, deren goldene Siegelschnur . zu einem breiten Geflecht gelegt ist. Denn die Schreiber in den einzelnen Staatskanzleien, Spezialisten dieses Fachs, entwickelten immer größere Kunstfertigkeit. Die möglichst prächtige und repräsentative Gestaltung der Schriftstücke war ihre Stärke und machte sie der Diplomatie unentbehrlich. In diesem Zusammenhang sei eine soziologisch interessante Tatsache erwähnt: Die unteren Beamten des „Taxamtes“ der Reichskanzlei zu Wien mußten ihre Laufbahn als „Supernumerarii“, das heißt als außer planmäßige Arbeitskräfte, beginnen und bezogen kein Gehalt. Amtsdierier mit schöner, urkundengerechter Handschrift und passablen Lateinkenntnissen zählten nicht zu den Seltenheiten. Die „Supernumerarii“ bestritten ihren Unterhalt aus den „Schnurgeldern“ und „Siegelgeldern“, die von den Empfängern der Urkunden eingehoben wurden. Diese Regelung blieb bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches bestehen.

Es gab keine Bestimmungen über die Anzahl der Siegel an einem Schriftstück. So viele Unterfertigte, so viele Siegel. Als besonderes Kuriosum freilich ist jene Urkunde zu werten, die der gegen Friedrich 111. gerichtete „Mailberger Bund“ der Stände Österreichs ob und unter der Enns Anno 1451 auf setzte. Nicht weniger als 254 Siegel beschweren das Pergament und liegen — eine Siegelsammlung für sich — als dickes Bündel grüner und roter Wachsscheiben in einer Vitrine des Haus-, Hof- und Staatsarchivs.

DIE KUNST, SIEGELSTEMPEL ZU SCHNEIDEN, übten zahlreiche Goldschmiede des Mittelalters aus. Als Material für die „Typare“, wie man die Stempel nennt, diente Bronze oder Messing, kaiserliche Siegel schnitt man in Silber oder in gewichtige Stahlstücke. Unter Friedrich III. wurde eine besondere Bestimmung in die Zunftordnung aufgenommen: Goldschmiedegesellen hatten als Meisterstücke auch schöne Typare zu fertigen. Daß die Siegelgravur für die Entwicklung des Kupferstiches von großer Bedeutung war, sei hier nur am Rande vermerkt.

In jenen siegelfreudigen Zeiten fanden tüchtige Handwerker dieses Fachs wohl ihr gutes Auskommen durch die zahlreichen Aufträge, die ihnen Klerus, Adel und Städte erteilten. Am deutlichsten offenbart sich der hohe künstlerische Rang einzelner Stempelschneider in den prachtvollen gotischen Bildnissiegeln der Herrscher und der hohen Geistlichkeit. Im feierlichen Ornat, die Krone auf dem Haupt, thront der Kaiser in glanzvoller Majestät unter dem reichgegliederten Baldachin, umgeben von den Wappen seiner Lande. Jede Einzelheit der Gesichtszüge, des Gewandes und der Architektur ist bei solchen Meisterwerken der Kleinplastik mit großer Deutlichkeit wiedergegeben. Im bescheidenen Format des Siegelstempels wirkte die gleiche Kraft reifer, edelster Gestaltung, die in der Wiener Neustädter Burg die Wappenwand und zu St. Stephan die Grabplatte Friedrichs III. schuf.

Die späten Habsburger bevorzugten das minuziös ausgeführte, repräsentative große Wappensiegel mit dem vielfach geteilten Schild, der gleichsam die heraldische Übersetzung aller klingenden Titel des Monarchen darstellt. Kunstvoll gravierte, vergoldete

Kapseln schützen die kostbaren Abbilder vor Beschädigung und Bruch. Ludwig XIV. von Frankreich ließ sogar — ganz seinem Lebensstil gemäß — dem Siegelwachs Duftstoffe zusetzen; noch heute ist der eigenartig würzige Geruch wahrzunehmen.

Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv und dem Archiv des Deutschen Ordens auf dem Stephansplatz befinden sich wertvolle, große Sammlungen alter Typare, wohlgeordnet ruhen sie in hohen Schubladenschränken. Normalerweise wurden Siegelstempel, sofern sie nicht als „Erbsiegel“ in Verwendung blieben, nach dem Tod des Siegelherrn vernichtet oder unbrauchbar gemacht, um Fälschungen zu verhindern. Nicht selten zerschlug man das Typar mit einem Hammer auf dem Grabstein des Dahingegangenen oder feilte tiefe Linien in das Siegelbild. Kaiserliche Typare allerdings wurden meist unversehrt aufbewahrt. In den Städten wachte der Rat mit großer Strenge über die ordentliche Verwahrung des gültigen Stempels. Ein Bürgermeister von Prag, dem das Typar eines Tages abhanden kam, büßte seine Unachtsamkeit unter dem Schwert.

IM DACHGESCHOSS DES HAUS-, HOF- UND STAATSARCHIVS auf dem Minoritenplatz befindet sich die Werkstatt des Siegelrestaurators. Ein junger Mann ist hier an der Arbeit, gelernter Buchbinder, Absolvent eines Fachkurses in den Restaurierungswerkstätten der Nationalbibliothek. Sein Vorgänger, der Jahrzehnte mit . der Pflege von Siegeln und Urkunden verbrachte, machte ihn mit reichen prak tischen Erfahrungen vertraut. Heute arbeiten Konservatoren und Archivare eng mit den Technologen und Chemikern zusammen, um neue, wirksame Mittel gegen die „Siegelkrankheiten“ zu finden und zu erproben.

Als größte Gefahr für den Bestand der alten Wachssiegel ist die Austrocknung anzusprechen. Wir kennen die genaue Zusammensetzung des mittelalterlichen Siegelwachses nicht, nirgends finden sich Rezepte verzeichnet. Mit einiger Sicherheit konnte festgestellt werden, daß pulverisierte Baumrinde und ähnliche Stoffe beigemengt sind. Bei allstrocknenden Siegeln tritt weißliche Verfärbung auf, frische Fettzufuhr durch Bestreichen mit Olivenöl soll den Verfallsprozeß aufhalten. Genaue Untersuchungen erwiesen auch das Vorkommen des Strahlenpilzes, Im Bayrischen Staatsarchiv in München, wo ein eigenes, modern eingerichtetes Siegellabor besteht, wendet man ein in Schweden erprobtes Konservierungsverfahren an: in einer Vakuumanlage werden die Pilzkolonien vernichtet.

Zerbrochene Wachssiegel fügt der Restaurator mit dem geschmolzenen Wachs unbrauchbarer alter Siegelstücke zusammen, wobei der Grundsatz gilt, daß am wiederhergestellten Objekt die Restaurierung deutlich erkennbar sein muß. Sind nur noch Fragmente erhalten, dann ergänzt man die fehlenden Teile in sorgfältiger Kleinarbeit aus frischem Bienenwachs. Mit der erwärmten Ahle bohrt der Restaurator einige Löcher in das Siegel, steckt kurze Holzstäbchen hinein und verbindet so das Original mit dem neuen Teil, den er in den entsprechenden Proportionen formt und glättet.

Ein besonderes Kapitel ist die Behandlung kranker Bleisiegel. Es sind hauptsächlich päpstliche Bullen, denn bis auf den heutigen Tag siegelt das Oberhaupt der Christenheit in Blei, mit dem Abbild Petri und Pauli. Der „Bleifraß", eine chemische Veränderung, ähnlich der Zinnpest, gefährdet die wertvollen historischen- Siegel. Die Symptome: eine pulverige, weiße

Schicht, die das Siegelbild allmählich unkenntlich macht, immer tiefer greift und schließlich das Objekt zur Gänze zerstört. Ein Karzinom im Bereich der Sphragistik, Internationale Laborversuche mit verschiedenen chemischen Lösungen zeitigten bis jetzt noch keine restlos befriedigenden Ergebnisse.

„DIE SIEGELRESTAURIERUNG ist eine Kunst und Wissenschaft der Archivare. Generationen haben sich darum bemüht.“ So schrieb ein Experte kürzlich in einer Fachzeitschrift für Archivartechnik. Freilich, Reichtümer kann man als Siegelkonservator nicht erwerben. Es sei denn, man fühlt sich durch die Arbeit selbst und durch das Bewußtsein, an der Erhaltung unseres Kulturerbes mitzuwirken, innerlich bereichert. Das ist eben eine Frage der persönlichen Einstellung. Glücklicher-

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