6565966-1949_46_05.jpg
Digital In Arbeit

Gespräch um ein neues Europa

Werbung
Werbung
Werbung

Das 12. Jahrhundert darf mit vollem Recht als das erste Jahrhundert eines neuen Europa angesprochen werden. In ihm wird zum erstenmal die Wesensart der europäischen Geschichte augenscheinlich sichtbar: der Agon, das politische, religiöse, geistigkulturelle, soziale und wirtschaftlich bedingte Streitgespräch zwischen ebenbürtigen Partnern. Die außereuropäische Geschichte, die Historie Asiens, Afrikas, des vorkolum- bischen Amerika, soweit wir sie einsehen, gleicht Europa gegenüber großen Monologen, gehalten von den chinesischen, assyrischen, ägyptischen und anderen Gottkaisern, Weltenherrschern und Kaisergöttern. Ein Ton, eine Macht setzt sich immer wieder, nach mehr oder minder langen Kämpfen, durch und herrscht dann, oft nur einer langsamen inneren Evolution, meist Stagnation unterworfen, durch Jahrtausende. Ihre Machtkämpfe, Palastrevolutionen, Kriege und Aufstände gleichen nur „Geschichten“, in den äußerlich bunten Teppich der Zeitläufte verwoben, nicht einmaliger Geschichte; gleichen dem Wechsel der Tag- und Nachtgleiche, der Jahresläufte; so die Mongolenstürme dem Steppenbrand und ost-westlichen Wechselwinden. Der Auf- und Niedergang assyrischer, babylonischer, persischer und ägyptischer Dynastien von Gottkaisern gleicht dem Auf- und Niedergang der Sterngötter, mit deren Attributen — Himmelskrone, Weltenzeltmantel und Szepter — die irdisch-göttlichen Herrscher sich kultisch zu gewanden pflegten. Ganz anders Europa. Hier scheint jede Stunde ganz anderen geschichtlichen Rang zu besitzen — was einmal in den Tagen des Augustus oder schon des Perikies in Erscheinung trat und historische Wirklichkeit wurde, wirkt fort, bleibt irgendwie stets präsent und ist befähigt, zu neuer Wirklichkeit und Wirksamkeit heraufzusteigen, wenn es die Not einer späteren Stunde ruft. Hier ruht das Geheimnis der europäischen „Renaissancen" — Renaissancen nicht nur des Antiken und Antiki- schen, des Humanistischen, sondern auch des Barbarischen. Bekanntlich fürchteten die europäischen Humanisten seit dem 16. Jahrhundert (lange schon bevor J. B. Vico die Ricorsi positiv aufwertete) solche Auferstehungen des „Bösen“, Barbarischen, Antihumanistischen. Dem christlichen Geschichtsdenken, welches nicht nur die Wiederkunft Christi, sondern auch die Neros und zahlreicher anderer „Antichriste“ kannte, war der Gedanke der Reformatio, der Renovatio seit je geläufig. Dies nun scheint eben zum Eigentümlichsten europäischer Geschichte zu gehören: diese ganz enge, intime Bindung und Verbindung eines Prinzips ständiger Revolution mit dem entgegengesetzten der Konservation! Alles, was je aufscheint im historischen Raum des Abendlandes, bleibt irgendwie erhalten. Zugleich aber wird alles Präsente stets neu in Frage gestellt, ob seines Wertes, seiner Würde, seines Gegenwartsgehaltes. Diesem revolutionären Prinzip unserer Geschichte liegt zweifellos eine starke christlich-spirituelle Komponente zugrunde: sie wirkt gleichermaßen in „Staat“, „Kirche“, „Gesellschaft“, Kultur“, „Geistigkeit“ und „Leben“ jeder europäischen Epoche und stellt immer wieder diese unter das Gericht des Absoluten — weil sie die Zeit ge-richtet weiß durch den Anruf des lebendigen Gottes. In diesem Sinne verbindet eine lebendige Kette die gregorianischen Reformer des 11. Jahrhunderts, welche zum Zeugnis aufriefen wider die massive „gottweltliche“ Einheit frühfeudaler Adelsherrschaft in Reich und Gottesreich, mit den Spiritualen des 13., den Fraticellen des 14. Jahrhunderts, mit den laikalen mönchischen Humanisten von Petrarca über Erasmus zu Pico della Miran- dola und über diese hinaus mit den bürgerlichen, dann sozialistischen Reformern und Revolutionären des 18. bis 20. Jahrhunderts. — Europäische Geschichte also als Agon! Wir gebrauchen bewußt das griechische

Wort, umfaßt es doch eine doppelte Wurzel, welche für die Ausbildung des abendländischen Streitgesprächs von entscheidender Bedeutung wurde. „Agon“ — zum ersten als Wesenselement adelig-griechischer Erziehung, der Paideia, wie sie uns Werner Jaeger aufgezeigt hat, zum zweiten als Grundelement paulinisch-augustinisch-römi- scher Christianität: Das Leben als „Kampf“, als Wettlauf, als militia Christiana — von Paulus bis zur Regel Benedikts, von Gregor dem Großen bis zu Gregor VII. schließt sich der Raum, der das Mittelalter gebiert!

Das 12. Jahrhundert als Agon, als mächtiger Aufklang des großen gesamteuropäischen Streitgesprächs — in einer Fülle von Ausfaltungen bietet es sich uns dar. Gewiß, das Leitmotiv, der große Streit um die „rechte“ Weltordnung, zwischen Regnum und Sacerdotium, wird ihm bereits vom 11. Jahrhundert übermittelt, von jenem Jahrhundert, in dem der „Investiturstreit“ nur ein bescheidener Teilausdruck jener Aufspaltungen ist, in denen der feudal-germanische „gottweltliche" Kern des frühen Mittelalters wie ein Atomkern zerfällt. Aus diesem Zerfalle entstehen, zum Teil in Kettenreaktionen, „Staat“ und „Kirche", Bürgertum und Laientum, Geist und Geistigkeit der neueren Jahrhunderte ebenso wie die Wissenschaften vom Streite: Dialektik, Philosophie, Scholastik, die Künste des Minnesangs, des höfischen Epos und Romans, die Gotik und die polyphone Musik am Ende des Jahrhunderts — eben dort, wo der gewichtigste Aufklang ertönte, in Paris.

Dies weist auf eine Eigenart unseres Jahrhunderts hin, welche ihm oft schon in der historischen Forschung viel Schaden eingebracht hat: seine enge Verbindung mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Jahrhundert. Fast alles in ihm weist bereits auf das 11. Jahrhundert zurück und weist voraus in das dreizehnte! Dies Schwanke, Pendelnde umgreift nicht nur Erscheinungen wie den sogenannten „frühen Minnesang“, die „Spielmannsdichtung“ und das „frühhöfische“ Epos, sondern auch führende tatkräftige Gestalten des Jahrhunderts, wie Bernhard von Clairvaux, Alexander HL, Otto von Freising und selbst Friedrich Barbarossa. Das 12. Jahrhundert ist — und diese Tatsache vermag nur im Zusammenhang mit dem 11. und 13. Jahrhundert richtig eingesehen zu werden — das mittelalterliche Jahrhundert der Ketzer. Und das heißt: der Bewegungen von Menschen, welche aus der Ordnung, aus dem religös-politischen und geistig-kulturellen Gesamtgefüge ihrer Zeit auszubrechen versuchen. Diese „Ketzer" verstehen die „alte Welt“, die gottweltliche, sakramental begründete Einheit von „Reich" und „Gottesreich“ nicht mehr, sie suchen eine neue Geistkirche ohne Sakramente und alte Priesterschaft, ein erneuertes Evangelium — und eben damit bezeugen sie sich bereits als in tiefstem Zusammenhang stehend mit den innerkirchlichen Reformbewegungen, welche seit den Tagen Gregors VII. erregend die abendländische Weit durchsäuern und durchsetzen. Cluniazensertum und Kreuzzüge, Gotik und Minnesang sind in ihrer Entstehung nicht zu begreifen ohne das eigentümliche Zusammenwirken von Mönch und Ritter in den innerkirchlichen und außerkirchlichen spirituellen Bewegungen des Jahrhunderts: Neben den Ketzerführern stehen Bernhard und Norbert, die Gründer zahlreicher neuer Orden und monastischer Gemeinschaften — viele stehen merk-würdig und höchst bezeichnend zwischen den beiden Außenseiten der spiritualen Bewegung: Abä- lard und Arnold von Brescia, Joachim von Fiore und lange genug noch ihr größter Vollender: Franz von Assisi. — Deshalb ist dieses Jahrhundert nicht nur ein Jahrhundert der Kreuzpredigten, der Streitgespräche mit Heiden und Ketzern, sondern vielmehr noch eines der inneren Streitgespräche zwischen den Orden, zwischen Cluniazensern und Zisterziensern, Zisterziensern und Prä- monstnatensern, zwischen Ordens- und Weltklerus, zwischen alter symbolistischsakramentaler und neuer scholastischer Theologie. Ab- und Widerglanz dieser Streitgespräche sind im literarisch-kulturellen Raum die Streitgespräche des Minne sangs und der höfischen Dichtung, im Hochpolitischen die Kampfschreiben der kaiserlichen Kanzlei und die Rundschreiben der Päpste...

(Aus dem Vorwort des soeben im Erscheinen begriffenen Werkes des Verfassers: „Aufgang Europas . Europa-Verlag, Wien- Zürich 1949.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung