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GOTIK IN KREMS

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Wenn man von Oesterreichs Vergangenheit spricht, von Oesterreichs historischem Lebensstil, von Oesterreichs kultureller Tradition, denkt man zunächst an das — Barock. An jene Willensäußerung einer Epoche, die uns heute noch so gegenwärtig ist: in den Kunstdenkmälern, die uns umgeben, in der Musik, die so sehr den nationalen Charakter widerspiegelt, in der Architektur, die sich in unsere Landschaft einfügt wie keine andere. Das „Oestęr- reichische Barock“ ist ebenso zum kunstkritischen Begriff geworden, wie das „barocke Oesterreich“ zu einem Schlagwort in den Bereichen der Touristik: es ist das allerorten populäre Pendant zur „Italienischen Renaissance“, zur „Französischen Romanik“ oder zur „Deutschen Gotik“. Man will die Dinge eben eingeteilt wissen, katalogisiert.

Oesterreichs gotische Vergangenheit blieb lange Zeit fast ausnahmslos den Fachbezirken der Kunstgeschichte überlassen. In das breitere Volksbewußtsein dringt allenfalls ein gutes Dutzend exponierter Mahnmale: allen voran der ehrwürdige 'Stephansdörn' und’-In weiteret Folge die Franziskaner- und Zisterzienserkirchen in Friesach, Retz und Krems, in Imbach, Neuberg und Zwettl — sowie die großen Denkmäler der Tafelmalerei, wie sie etwa der Verduner Altar und der Albrechtsmeister im Stift von Klosterneuburg, der Schottenmeister (in der gleichnamigen Wiener Abtei) oder die berühmten spätgotischen Flügelaltäre in Herzogenburg und Melk und die des Pulkauer Meisters in St. Florian repräsentieren: einzigartige Kostbarkeiten, in deren Besitz man sich weiß, denen man vorwiegend die Bedeutung „musealer Werte“ einräumt — während die barocken Zeugnisse nahezu in den Lebenskreis des Alltags einbezogen werden.

Die Bauwerke Fischer von Erlachs kennt jedes Kind, die Namen (und der leichter zugängliche Teil der Werke) Jakob Prandtauers und Johann Schmidts sind geläufige Begriffe: die Spuren der Gotik verlieren sich in der unzugänglich scheinenden Distanz des „Mittelalters“, das der Oeffentlichkeit ferner liegt als die antiken Ausgrabungen in Sizilien.

Gewiß, das Barock ist präsenter (und wesentlich und zahlreich und einfacher zu finden), tmd die Renaissance ist mit den Annehmlichkeiten eines Badeurlaubs verbunden — aber es sollte nicht übersehen werden: die klare, erlesene, ernst und schön und gläubig in den Räumen der Verinnerlichung schwebende Geistesmacht der Gotik (und mit ihr eine glanzvolle Epoche unseres Landes) harrt in nächster Nähe. Hier mag so manche „Grabung“ vorgenommen werden können, so manche enthüllende Entdeckungsreise. Hier liegt ein Schatz, ein ungehobener.

Bis Ende Oktober 1959 beträgt die Entfernung von Wien in di Gotik 81 Kilometer. Der Weg führt nach Krems: zu einer der bemerkenswertesten kunsthistorischen Veranstaltung, die Oesterreich der Welt seit langer Zeit zu präsentieren vermag. Zur Ausstellung „Gotik in Niederösterreich“. Werbende Empfehlungen sind überflüssig. Das Ereignis spricht für sich, hat seinesgleichen nicht, hat nach internationalen Maßstäben gemessenes Format. Die volle (weltweite, angemessene) Anerkennung für Entschluß, Konzept und Ausführung bleibe dem Forum der wissenschaftlich-akademischen Publizistik 'vorbehalten.

Daß gerade das niederösterreichische Krems zum Schauplatz einer so großzügigen Führung durch das späte Mittelalter werden konnte, ist freilich kein Zufall: Da sind zunächst die anerkennenswerten geistigen Impulse der Stadtverwaltung (man erinnere sich an die Kremser Schmidt-Ausstellung 1951); da ist ferner der wertvolle Bestand von 63 erhaltenen gotischen Bauwerken — darunter der Besitz des bedeutendsten Profanbaues der frühen Gotik: die Gozzo- Burg aus der Zeit um 1275; da ist schließlich die zauberhafte Göttweiger Kapelle mit ihren unermeßlich schönen Freskenzyklen (um 1340) und schließlich die ehemalige Minoritenkirche in Stein (1264 bis 1325) — der stilgemäße, innenarchitektonisch unübertreffliche Rahmen der Ausstellung. Das alles fügt sich aneinander, schafft eine glückliche Ergänzung äußerer Gegebenheiten: Kulisse, Atmosphäre und Initiative.

Die wahre, im Vergangenen fundierte, eminent historische Strahlkraft indes schöpfen die in Krems gezeigten Zeugnisse der Gotik aus der Chronik der österreichischen Kulturgeschichte selbst: denn hier, im Donauraum, im nieder- österreichischen Kernland des Reiches, fielen unter den Vorzeichen der gotischen Epoche die Würfel der kommenden Jahrhunderte. Die anbrechende Stilwende zum neuen Geist- (und zu der raumgewinnenden Hochkultur) der Gotik ist gleichbedeutend mit der Historie des Hauses Oesterreich.

Das Zeitalter der Getik brach für Oesterreich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein, entwickelte sich im 14. und 15. Jahrhundert zur Blütezeit der vergeistigt-klassischen und schließlich höfisch-verfeinerten Hochgotik und ging allmählich im 16. Jahrhundert in jenes Stadium der (schwerfälligeren, realistischen Spätgotik ’über, die sich als Stil- und Geistesmacht gegen die (wesensfremde und sich nui spärlich auswirkende) Renaissance zu behaupten wußte. .

Das Vordringen der in Niederösterreich 1275 nachweisbar etablierten neuen Lebensäußerung und ihres Kunstempfindens fällt mit der Besitznahme Oesterreichs durch Rudolf I. zusammen: mit dem Untergang Przemysl Ottokars II. (und der unter seiner Regentschaft herrschenden

Spätromanik), mit der Begründung der österreichisch-habsburgischen Hausmacht. Der Raumgewinn vollzieht sich im Zeichen der neuen dynastischen Idee, des Staatsgedankens, der weltweiten Beziehung, der von Gottes Gnade gesalbten, im Herrscherhaus fundierten sittlichen und reichspolitischen Mission. Noch einmal: die österreichische Gotik ist gleichbedeutend mit der Historie des Hauses Oesterreich — und mithin mit dem Anbeginn der Jahrhunderte währenden Weltmachtperiode des Landes.

Kulturgeschichtlich liegt der Vorgang klar: Die geistige, politische und wirtschaftliche Neuorientierung öffnet die Tore nach dem Westen: zum Oberrhein, in die Schweiz, zum ganzen alemannischen Südwesten Deutschlands. Das „Erbland", nunmehr zum deutschen Kaiserreich zugehörig, wird intensiv mit dem kulturellen Standort Europas konfrontiert und wird in gleicher Weise Mittelpunkt. Wird befruchtet und befruchtet wieder, empfängt Impulse und gibt sie zurück: Zu Beginn des 14. Jahrhunderts ist die Bauhütte des Stephansdomes, in engstem Kontakt mit der Regensburger und Prager Hütte, bereits Zentrum und Lehrstätte der gotischen Architekturschule. Und die Donauschule , (das Kulturbecken Regensburg-Passau-Wien) wird zum Brennpunkt des bildnerischen Schaffens. Die Gotik in Niederösterreich ist ein Spiegelbild dieser Entwicklung, die Ausstellung in Krems ihre Chronik: Wegweiser in die Vergangenheit, Fundgrube des Studiums.

Fünfhundert Ausstellungsobjekte, ausschließlich in niederösterreichischem Besitz befindliche oder auf niederösterreichischem Boden entstandene Zeugnisse der gotischen Kultur, gewähren ein reiches, instruktives Schaufeld: Denkmäler der Tafelmalerei, der Buch- und Glasmalkunst, der Plastik und des Fresko sowie Beispiele der Goldschmiede- und Baukultur lassen jene große Zeit erstehen, geben Einblick in das Kunstgewerbe, die Volkskunst und Wissenschaft.

Die Sammlung der Tafelmalerei zeigt neben den eingangs erwähnten, allgegenwärtigen Kostbarkeiten (zwei Tafeln von der Predella des Heiligenblutaltars in Pulkau, das Tod- und Krönungsmotiv Mariens sowie die Kreuzigung Christi auf der Rückseite des Verduner Al tares) vier herrliche Tafeln des Albrechtsaltares (Stiftsmuseum Klosterneuburg) und Tafeln von Rueland Frueauf, Jörg Breu und Lukas Cranach. An illuminierten Handschriften (die Auswahl ist von einzigartigem Reichtum) sind unter anderem der Kommentar des heiligen Hieronymus zum Propheten Isaias (Melk?, um 1230), das Seitenstettener „Missale“ (1270/1280), das Alte Testament der Bibel aus dem Dominikanerkloster in Krems sowie das Stiftungsbuch des Klosters Zwettl (um 1315/1325) zu sehen. Die Glasmalerei ist durch die „Babenberger Fenster“ (Zisterzienserabtei Heiligenkreuz und Brunnenhaus, um 1290), die Kreuzgangverglasung in Klosterneuburg (1317/1335) und das „Fünf- adlerwappen“ (um 1340) vom Stephansdom vertreten.

An Skulpturen sind außer dem berühmten „Marientod“ aus dem Stift Herzogenburg die großen Apostelfiguren von Lorenz Luchsperger aus dem Dom von Wiener Neustadt (um 1500) und eine charakteristische Auswahl der ergreifendsten Mari'enfiguren des Landes aufgeboten; an Arbeiten des Kunstgewerbes sind in erster Linie der Corvinusbecher (Wiener Neustadt), die prachtvolle Messerer-Monstranze der Stadtpfarre Waidhofen an der Ybbs (1472) und das silberne Rauchgefäß aus Seitenstetten anzuführen. Dies gelte nur als Ausschnitt aus den reichhaltigen Zeugnismaterialleihgaben von nicht weniger als 89 Museen und Sammlungen des In- und Auslandes: die vollständige Erschließung der zur Zeit in Krems konzentrierten Gotik kann nur vom Kunstfreund persönlich vorgenommeri werden.

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