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Gregorianik-Boonv Fromme Gesänge in der Techno-Disco
Ein mittelalterlicher Mönch, ein neuzeitlicher Kirchenbesucher, ein zeitgenössischer Discofreak, was haben sie gemeinsam? Die Gemeinsamkeit der neunziger Jahre besteht in einem Wort: Gregorianik. Die Rede ist von dem im frühen Mittelalter entstandenen einstimmigen Gesang der römischen Liturgie, der nach Papst Gregor I. dem Großen (590 bis 604) „Gregorianischer Choral” benannt wird.
Die Blütezeit dieser Gesänge war im Hochmittelalter. Erst Ende des vorigen Jahrhunderts wurden sie in der „Schule von Solemnes” für die liturgische Praxis wiederentdeckt, eine Aufgabe, welche in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts eine neue Wissenschaft, die Semiologie, fortsetzte. Es war die Liturgiereform des Zweiten Vaticanums mit ihrer Zulassung der Volkssprache innerhalb der Liturgie, die dafür sorgte, daß der gregorianische Choral mit seinen lateinischen Texten weitgehend aus der kirchlichen liturgischen Praxis verschwand und ein Dämmerleben hinter Klostermauern und im wissenschaftlichen Diskurs verbrachte.
Eine unerwartete Renaissance erfuhren die tausend Jahre alten Gesänge im Jahr 1990, als Popsongs auftauchten, in denen gewohnte zeitgemäße Rhythmen mit gregorianischen Chorälen unterlegt waren. Der neue Stil griff, eine Marktlücke war entdeckt und bald danach wurde Gre-gorianik pur auf CD gepreßt und brachte schließlich die Sensation. 1993 belegten die Gesänge der Doppel-CD der Mönche von Silos in den USA Platz Drei der Pop-Charts. Bald richteten Techno-Diskotheken eigene Ruheräume ein, in denen Gregorianische Choräle erklangen - auf Latein selbstverständlich, was aber niemanden störte.
Rückblickend betrachtet scheint da ein seltsamer lausch vor sich gegangen zu sein - die aus den Kirchenräumen verschwundenen lateinischen Gesänge tauchen „in der Welt” wieder auf. Ist es bloße Mode im Zuge eines allgemeinen Interesses für das Mittelalter oder doch auch ein Ausdruck postmoderner Sehnsucht nach Einfachheit und Mystik und damit ein Phänomen, das von der Kirche deutlich wahrgenommen werden sollte?
„Der aktuelle Gregorianik-Boom in der Pop-Industrie ist sicherlich eine
Modeerscheinung, die wieder verschwinden wird”, schätzt Godehard Joppich, renommierter Gregorianik-experte aus Deutschland, die weitere Entwicklung ein. Er war einer der Hauptreferenten des Fünften Internationalen Gregorianikkongresses, der vor einiger Zeit im Wiener Schottenstift stattfand. „Von der Gregorianik selber”, so Joppich, „können und sollen aber Impulse für eine liturgische Erneuerung ausgehen.” Es gehe nicht darum, ständig neue Lieder mit neuen 1 exten und manchmal „fragwürdigen Poesien” zu schreiben, sondern aus dem vorhandenen Schatz, der Heiligen Schrift, zu schöpfen, diesen erst einmal selber zu begreifen und dann richtig zu vermitteln. Allerdings sei dies ein Prozeß, der sich über Generationen ziehe, meint Joppich.
Was ist Gregorianik eigentlich? Sie ist nicht einfach Musik, wird Joppich nicht müde zu erläutern, sondern erklingender Logos: „Hier erklingt das Wort, und ehe wir uns auf den Ton stürzen, sollten wir wissen, daß das Wort primär ist.” Die mittelalterlichen Mönche übten in der „Rumina-tio” (lateinisch: Wiederkäuen), dem steten Wiederholen von Psalmversen, dieses Wort als Gebet ein, und aus diesem Einverleiben entstand erst die dazugehörige Melodie. Gregorianik ist demnach nicht einfach Musik oder gar Komposition, sondern das zum Ton gewachsene Wort.
Mißt man den aktuellen Gregorianik-Boom in der Pop-Industrie an diesem Kriterium, so ist klar, daß es sich bei diesem Wiederaufgreifen der alten Gesänge um keine wirkliche Renaissance handelt. Denn nicht das Wort, sondern die monoton-meditativen Melodien zählen für die Zuhörerschaft. Ebensowenig können aber auf die Dauer konzertante Aufführungen gregorianischer Choräle zu einer wirklichen Renaissance beitragen.
Im Gegenteil: statt einer Wiederbelebung des Chorals könnte es zu seiner Musealisierung kommen. „Wir spielen eben ein bißchen Mönch ”, formulierte ein Mitglied der zum Kongreß in Wien geladenen Schola Can-torum Amsterdam, wohl ohne es zu wollen, das Dilemma. Die Aussage muß nachdenklich stimmen. Es ist zu fragen, in welcher Form gregorianische Gesänge heute außerhalb ihres früheren Rahmens existieren können, ohne einer Musealisierung zu erliegen. Die schon bestehenden Versuche kreativer Kirchenmusiker, „alte” gregorianische mit „neuen” Gesängen (beispielsweise aus Taize) zu kombinieren, könnten eine Antwort darauf sein.
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