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Heute: Die „Darmstädter Schule“

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Luigi Nono, der junge italienische Komponist, sprach in seinem Vortrag, der die historische Entwicklung der Reihentechnik bis zu ihrer heutigen Handhabung aufzeigte, das stolze Wort aus: es gibt sie schon, die „Darmstädter Schule“. Was — dies meinte er damit — in in diesen zwölf Jahren, in denen nun schon die Ferienkurse für neue Musik, veranstaltet vom Kranichsteiner Musikinstitut in Darmstadt, abgehalten werden, an technischen Problemen diskutiert, an Lösungsversuchen vorgeführt und an Kenntnissen (materieller wie formaler Art) gewonnen worden ist, das sei auch schon im schöpferischen Bereich fruchtbar geworden und habe stilbildend gewirkt. Die „Darmstädter" — Stockhausen, Boulez, Nono, Pousseur, Berio sind die schon „arrivierten“ Exponenten — sind im Technischen wie im Stilistischen eine Gemeinschaft, noch mehr: sie markieren den äußersten Vorposten der neuen Musik. Und sie sind in ihrem Denken schon weit hinaus über jene Stilgemeinschaft, die für die erste Hälfte unseres Jahrhunderts die eigentlich legitime war: die „Wiener Schule". Was Schönberg, Berg und Webern an völlig neuen (und, wie sie und ihr Publikum glaubten, endgültigen) Lösungen erarbeiteten, das wurde für diese jungen Musiker als bloße Anregung bedeutungsvoll, von der aus sie selbst wiederum in neue Bereiche der Musik vorstießen, die vor Jahrzehnten noch für völlig unerschließbar gegolten hatten. Hier jedoch — um das prinzipiell Problematische der Situation der neuen Musik vorwegzunehmen — tut sich eine Kluft auf, die schier unüberwindlich ist und auch den wohlwollendsten Betrachter bedenklich stimmt. Wie soll ein Publikum, das Schönbergs „Fünf Orchesterstücken“ ratlos gegenübersteht und Weberns „Symphonie" mit Lachen und Pfeifen quittiert, wie soll es sich in Stockhausens „Zeitmaßen" oder im „Marteau sans Maître" von Boulez zurechtfinden?

Damit ist nichts gegen die Darmstädter Veranstaltung selbst gesagt. Sie ist richtig, wertvoll und notwendig. Nur daß sie notwendig ist,

stimmt nachdenklich. Ihre Isolation bringt jedoch zugleich auch etwas höchst Positives mit sich: sie verweist den Musiker auf den rein technischen Bereich, auf das Material. Nirgendwo sonst wird Musik so sehr vom rein Handwerklichen her begriffen wie in Darmstadt,

H. H. Stuckenschmidt hat unlängst formuliert, daß die Zahl, die errechnete Ordnung, zum Vehikel für die Schönheit geworden ist — die Darmstädter Tagung bestätigte ihn geradezu. Die Affinität von Musik und Mathematik, der Wunschtraum vom errechenbaren Kunstwerk — all das wurde dem gegenwärtig, der etwa den Analysen lauschte, die Karlheinz Stockhausen, der junge Kölner Komponist, in seinem höchst fesselnden Lehrgang vornahm. Ein zweites Problem tut sich hier auf: das Verhältnis von „errechneter Ordnung" und deren klingender Realität. Wie sieht die Musik, die die „Darmstädter Schule" schreibt, aus — und wie klingt sie? Es ist eine Musik der völligen Determination, eine völlig „du' -’’organisierte“ Musik. Das Reihenprinzip — von Schön berg noch thematisch verstanden, von Webern schon auf das rein Melismatische abgezogen und auf den Klangfarbenbereich erweitert — hat heute alle musikalischen Elemente erfaßt: Höhen und Dauern der Töne, ihre Klangfarbe, den Rhythmus; in dem sie aufeinander folgen?- die Kleinform der einzelnen musikalischen- Ge-3 stalt wie die Großform der ganzen Komposition sind durch eine Reihe, also quasi mathematisch, bestimmt. Mehr noch — sie sind voneinander abhängig, sie bedingen einander. Was im Makrobereich Dauern, also Rhythmen, sind, wird im Bereich der Mikroschwingungen zu Tonhöhen, denen gleichfalls einzig durch die Art und Aufeinanderfolge der Schwingungen ein bestimmter Farbcharakter eignet. Diese Grundweisheiten der Physik ergeben allerdings, zum kompositorischen Prinzip erhoben, eine Musik, für die allein der Frequenzgenerator zuständig ist. Stockhausen zeichnete das Schreckbild des Musikers, der mit Zentimetermaß und Schere komponiert, an die Wand. Er wies freilich zugleich auch einen Weg, der zurückführt aus der Determination und völlig neue Räume der Freiheit aufschließt. Vor Jahren ihnen selbst nicht einmal als Denkmöglichkeit zugänglich, haben ihn einige der Jungen schon beschritten, und fast sieht es so aus, als hätten sie mit diesen Werken der neuen Freiheit sofort den anderen, entgegengesetzten Extrempunkt in Besitz genommen. Vielleicht wird erst einem Beschreiten des Mittelwegs die gültige Musik unserer Zeit entwachsen können

Dem Betrachter drängt sich hier noch ein anderer Eindruck auf: daß bei den Werken dieser jungen Komponisten das Material über das Idiomatische dominiert. Die Materialverhaftet heit, die Sphäre des Technischen und seiner Lösung ist so stark, daß darüber der Tonfall der Herkunft, der „Personalstil“ (wie das abgegriffene Wort dafür lautet), zweitrangig wird. Nun ist die Frage des „Dialektes" einer Musik ein sehr heikles Problem (hat denn Mozart „österreichische" Musik komponiert?) und überdies für ihren Kunstwert ganz nebensächlich; dennoch aber kann es dem Ansehen der „Darmstädter" nur nützen, wenn sie alle zu einem ausgeprägten Idiom finden. Erst dann werden sie ihren Gegnern die Spitze nehmen können, die jetzt noch behaupten dürfen, daß die neue Freiheit dieser Musik nicht nur die Gestaltung des musikalischen Ablaufs in bloßen „Feldern" und die Interpretation nach den physischen und technischen Möglichkeiten des einzelnen Spielers umfasse, sondern bis zur Vertauschbarkeit ihrer Komponisten gehe; erst dann werden sie aber auch den wohlmeinenden Hörern das Evidenzerlebnis der Echtheit und Originalität vermitteln können, das nun . einmal jeder gültigen Musik eignen muß.

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