6684600-1962_10_12.jpg
Digital In Arbeit

HÖREN, SEHEN, DENKEN

Werbung
Werbung
Werbung

Wollte man eine aufschlußreiche Parallele zwischen den Musikern und den Malern von heute ziehen, so könnte man zuerst auf die Bedeutung und den scheinbar paradoxen Gegensatz hinweisen, der ihre Benennungen kennzeichnet. Die einen wollen „abstrakte“ Maler und die anderen „konkrete“ Komponisten sein. Hier also „Abstraktion“ und Abkehr von der konkreten Wirklichkeit; dort im Gegenteil „konkretes“ Verfahren und Rückkehr zur rein gegenständlichen Objektivität, zum Urstoff des hörbaren Klanges. Zwischen den Farben- und den Tondichtern scheint demnach ein unüberbrückbarer Abgrund zu klaffen, als wollte die zeitgenössische Kunst neue Wege des künstlerischen Ausdrucks in zwei diametral entgegengesetzten Richtungen erspüren. Über den Unterschied oder sogar den oberflächlichen Gegensatz der Benennungen hinaus lohnt es sich aber, die Dinge näher zu betrachten und schließlich bedeutende gemeinsame Punkte, wenn nicht identische Ziele und ähnliche Methoden festzustellen.

*

Das Kennzeichnende für die beiden Kunstfamdlien der Maler und der Musiker ist nämlich ein bewußter und brutaler Bruch mit der gewohnten, sinnlich wahrnehmbaren Gegenständlichkeit. Für die Maler besteht diese neu erfaßte Objektivität nicht mehr aus natürlichen, harmonischen Gestalten, so wie sie in der Natur oder am Menschen für gewöhnlich aufscheinen, sondern aus geometrischen Linien, die keine Schwere, keine dritte Dimension zu haben scheinen, oder nur aus einfach hingeworfenen farbigen Flächen, die areelle Formen und phantastische Gestalten annehmen. Die Abstraktion besteht also für diese MaleT im Verzicht auf die naturgegebene Stilisierung der vorhandenen Formen und Gestalten und in der Entdeckung beziehungsweise Erschaffung einer urtümlichen, rohen Gegenständlichkeit der sichtbaren Phänomene.

Der geistige und technische Schritt der „konkreten“ Musiker bewegt sich auf ähnlichen Pfaden. Genauso wie der abstrakte Maler auf naturgegebene Formen verzichtet, so auch der Musiker, der mit den hergebrachten musikalischen Formen bricht, die für die menschliche Sensibilität beinahe zu einer „zweiten Natur“ geworden sind. Das Abstrahieren der konkreten Musiker geht aber weiter: denn ihr Verzicht bezieht sich auch auf die hergebrachte Klangtechnik der Harmonie, der Tonskala und der Modulation, die besonders im Abendland als klassischer Kanon der musikalischen Schönheit betrachtet worden sind. Schließlich erstreckt sich das Abstrahieren auch auf das ganze Instrumentarium des Orchesters, dessen Klangfarbe ihre ursprüngliche Naturgebundenheit, ihre homogene Verwandtschaft mit dem Phänomen des natürlichen Klangs des Blasens oder des Streichens nie verleugnete. Der musikalische Stoff ist nun die ausschließliche Übernahme eines akustischen Materials von natürlichem Lärm oder von Geräuschen, von rohen und übertragenen Naturklängen oder auch die elektronische Erzeugung von neuen Klangaggregaten oder Klangfarben, deren rein physische Beschaffenheit (Zahl der Schwingungen und Längenwellen) nicht einmal mehr immer den physiologischen Voraussetzungen des menschlichen Ohres entsprechen.

Wir haben es hier mit einer Abstraktion zweiter Stufe zu tun. Der abstrakte Maler verzichtet bloß auf Formen, bleibt aber im

Besitz der einzelnen Worte und der Grundgrammatik seiner farbigen Sprache, es sei allerdings, daß er, auf die Farbe verzichtend, mit höchst konkreten Rohstoffen, Zement, Kreide und Metall, im abstrakten Stil experimentiert. Der konkrete Musiker verzichtet nicht nur auf Formen, er will sogar darüber hinaus auch mit den Worten und der Grundgrammatik der akustischen Sprache aufräumen und mit einem Rohmaterial umgehen, das nur als purer Lärm vorhanden ist oder, im Gegenteil, in der Natur überhaupt nicht existiert.

*Tprotz all dieser Diskrepanz kann man jedoch behaupten, daß sowohl die abstrakte Malerei als auch die konkrete Musik gemeinsame Grundelemente aufweisen und demselben Zeitgeist entsprungen sind. Die Kunstkritik oder die Geistesgeschichte hat schon mehrmals Gelegenheit gehabt, auf die'Kongruenz solcher künstlerischen Strömungen mit gewissen philosophischen Lehren der Gegenwart hinzudeuten. Man kann nämlich ohne Übertreibung sagen, daß der Verzicht auf normale Gegenständlichkeit in der Malerei und in der Musik denselben geistigen Prozeß illustriert, wie ihn die Denker der Existenzphilosophi vollzogen haben.

Denn die Existentialisten, französischer Herkunft zumindest, sind Phänomenologen, die eben in der Atomisierung der Gegen-

ständlichkeit die einzig wahre Methode: für die Erkenntnis des 'echten, wahrhaften Wesens des Menschen und des Kosmos sehen wollen. Nichts existiert so, wie unsere Sinnesempfindungen es uns vorspiegeln, alles ist anders. Der Mensch ist keine statische Existenz, deren Aufgabe es wäre, sich in die Kohärenz eines prästabilisierten Kosmos einzupassen, dessen Formen und Gestalten seit jeher und für immer einer vorhandenen, vor-noimierten Gesetzlichkeit untergeordnet sind. Unlängst schrieb der Theoretiker der „nouvelle vague“ in der französischen Literatur, der sogenannten „Anti-Roman-Bewegung“, Alain Robbe-Grillet:

„Es gibt nur eine große Frage: Hat, unser Leben einen Sinn? Und welchen Sinn hat es? Früher waren die Gegenstände, wie sie Balzac zum Beispiel geschildert hat, feste, beruhigende Gegebenheiten. Sie gehörten nämlich zu einer Welt, die den Menschen als ihren Herrscher anerkannte. Von all dem bleibt uns heute fast nichts mehr. Der menschliche Geist und das philosophische Denken haben ihre essentialisti-' sehen Fundamente aufgegeben, die husserlsche Phänomenologie hat sich schrittweise des ganzen Bereiches der philosophischen Forschung bemächtigt. Die Sinnhaftigkeit des Kosmos kann nur fragmentarisch, provisorisch und sogar kontradiktorisch sein. Der moderne Roman, das Kunstschaffen überhaupt, kann keine im voraus gegebene Sinnhaftigkeit illustrieren. . . Auf den Menschen selbst setzen wir unsere ganze Hoffnung: Allein die Formen, die er demiurgisch schafft, sind es, die der Welt eine Sinnhaftigkeit verleihen können.“

Der Mensch ist es also, dessen Sendung und Pflicht es ist, sich jenseits der einfach gegebenen Gegenständlichkeit — was Sartre bekanntlich ,,en soi“ oder „Situation“ nennt — das wahre Existieren der reinen Subjektivität zu eigen zu machen, das nackte Hineingeworfensein zu überwinden, und somit zur existentiellen Wahrhaftigkeit zu gelangen und eine neue, jedem eigene ethische Gesetzlichkeit prometheisch aufzustellen.

Es ist hier nicht möglich, über die existentialistische Ästhetik von Sartre oder Camus ausführlich zu berichten. Es sei jedoch zumindest kurz erwähnt, daß sowohl Sartre in seinen philosophischen Jugendessays — L'imaginaire und Essai d'unc theorie des emotions —, in seinen Romanen, zum Beispiel La naiisee, und in seinem metaphysischen Hauptwerk L'efre et le neant, ebenso wie Albert Camus in seinen zwei bedeutendsten Essays Le mythe de Sisyphe und L'homme revolte, eine Auffassung der Kunst und des künstlerischen Ausdrucks entwickeln, die eine nachträgliche Systemarisierung der surrealistischen Bewegung, des Kubismus oder auch der abstrakten Malerei und der konkreten Musik darstellen kann.

„Die Dicnfer (man könnte ebensogut sagen: die Künstler) sind Menschen“, schreibt Sartre, „die es ablehnen, sich der Sprache zu bedienen. Sie ist für sie kein Werkzeug, das es ihnen ermöglichen könnte, die Wahrheit zu erkennen und zu schildern. Der Dichter steht außerhalb der Sprache, als gehörte er nicht zur conditio humana, zum menschlichen Stand.“ A. Camus seinerseits schreibt:

„Ich glaube immer mehr, wie van Gogh geäußert hat, daß man Gott nach unserer irdischen Diesseitigkeit nicht end-

gültig beurteilen kann. Die Welt ist nur eine schlecht gelungene Skizze von seiner Hand. Die Revolte des Künstlers gegen das Gegebene, gegen die Gegenständlichkeit, bedeutet die gleiche Selbstbehauptung wie die spontane Revolte des Unterdrückten. Die Kunst ist zugleich Ablehnung und Bejahung. Die stärkste Stilisierung trifft man immer am Anfang und am Ende der Kulturepochen: Sie ist es eben, die der Ablehnung und dem Abstraktionswillen der modernen Malerei eine außerordentliche Kraft und einen etwas wilden Elan zur Existenz und zur Einheit verliehen hat.“

Es wäre freilich fehl am Platz, zu behaupten, daß die abstrakten Maler oder die konkreten Musiker ihre künstlerische Inspiration aus den Werken von Sartre oder Camus geschöpft haben oder es in Zukunft tun wollen. Jede Kunstgattung hat ihre eigene Disziplin, und es gibt hier keine lineare „communi-catio idiomatum“. Immerhin ist es kennzeichnend, daß die Philosophie der Existenz eine Gesamtweltanschauung ist und

keinen Bereich des menschlichen Daseins, sei es den rein intellektuellen, sei es den ethischen oder den rein künstlerischen, den ästhetischen, ignoriert. Und der Musiktheoretiker Rene Leibowitz bringt in seiner „Introduction ä la musique de douze sons“ die serielle und konkrete Musik der Gegenwart mit dem sartreschen Existentialismus in Zusammenhang und hat mehrere Seiten seines Werkes unter der ständigen Kontrolle von Sartre redigiert. Es ist immerhin weiter kennzeichnend, daß Marcel Brion in seinem Buch „Van abstrait“ die sogenannte ,,Raumscheu“ der abstrakten Maler als eine Art Übertragung der existentiellen heideggerschen ,,Sorge“ des Menschen darstellt, der, durch den Druck der natürlichen Gegenständlichkeit niedergeschmettert, seine „Grundbetindlichkeit“ außerhalb des vorhandenen Kosmos aufzufassen versucht.

A bstrakte Kunst und die existentielle Angst von heute sind keine unabhängigen, zusammenhanglosen Phänomene, ebensowenig wie abstrakte Malerei und konkrete Musik ohne tiefe Affinitäten sind. Sie alle können also als echte und getreue Zeugen unserer Epoche betrachtet werden. Vielleicht wird der Europäer des 21. Jahrhunderts oder der scharfsinnige Zeitdiagnostiker sogar schon heute in allen Richtungen der zeitgenössischen Malerei, Musik und Philosophie die drei homogenen Komponenten einer zwar lärmenden, anstoßerregenden, umstürzlerischen, aus ihren Fugen geratenen Menschheit sehen können; einer Menschheit immerhin, die eben dadurch, daß sie nach sich selbst sucht, extreme Mittel anwendet, sich etwas wild benimmt, aber im Grunde genommen nach einem wahrhaftigen, loyalen Humanismus trachtet. „Mir scheint alle Kunst nur Kunst für heute zu sein, wenn sie nicht Kunst gegen heute ist“, hat Karl Kraus gesagt. „Sie vertreibt die Zeit... sie vertreibt sie nicht! Der wahre Feind der Zeit ist die Sprache. Sie lebt in unmittelbarer Verständigung mit dem durch die Zeit empörten Geist. Hier kann jede Verschwörung zustande kommen, die Kunst ist. Die Gefälligkeit, die von der Sprache die Worte stiehlt, lebt in der Gnade der Zeit. Kunst kann nur von Absage kommen. Nur vom Aufschrei, nicht von der Beruhigung. Die Kunst, zum Tröste gerufen, verläßt mit einem Fluch das Sterbezimmer der Menschheit. Sie geht durch Hoffnungsloses zur Erfüllung.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung