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IM STREIFLICHT

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ACHTUNDDREISSIG Kilometer Kunst — diese Worte schrieb ein italienischer Kritiker als Titel über seinen Bericht anläßlich einer Monsterausstellung in einer italienischen Großstadt, die einen Überblick über das Schaffes aller italienischen Künstler bieten wollte. Achtunddreißig Kilometer: Schmalwand an Längswand, ein Saal nach dem anderen, vollgehängt mit Bildern aller Stile, aller Auffassungen — in der Tat, der Titel jenes Kunstreferats ist mit Intelligenz gewählt worden: er weist, gleichsam mit statistischer Begründung, auf das seltsame Phänomen einer Kunstinflation hin, wie sie heute nicht nur in Italien zu beobachten i6t. Zwar 6ind Großausstellungen zeitgenössischer Malerei in Österreich nicht so häufig wie etwa in Italien — der vor Jahren einmal unternommene Versuch einer „Großen österreichischen Kunstausstellung“ ist glücklicherweise nicht wiederholt worden —, aber wenn man flüchtig überschlägt, was so im Laufe einer Ausstellungssaison allein in Wien an Bildern und Graphiken einem unverhältnismäßig kleinen Publikum gezeigt wird — wahrhaftig, man kommt dabei auf ebenfalls recht beträchtliche Kilometerzahlen! Nie wurden so wenige Bilder gekauft wie heute, nie wurden sie schlechter bezahlt. Und dennoch, nie gab es mehr Maler als heute. Aber mit der Zahl der Opferwilligen steigt auch die Zahl der Unbegabten. Denn auch heute noch kommt auf ein Schock von Dilettanten, vielleicht, erst ein Rembrandt oder Picasso. Kann man aus solchen Überlegungen Schlüsse zieher ? Vielleicht nur einen: daß der Kunstkritik allmählich nicht nur au6 Geschmacks-, sondern schon aus fast soziologischsn Gründen weitester Spielraum und schärfere Tonart augebilligt werden müßte …

UBRIGIENS geht es den überdimensionierten Kunstausstellungen, wie es seinerzeit den Dinosauriern gegangen ist: ihre eigene Größe bringt sie um. Der Besucher ermüdet in ihnen allzu schnell, die Künstler haben erfahren müssen, daß ein gutes Bild von vielen mittelmäßigen sehr wohl „erschlagen werden kann — und die Besuchsziffem der Großau66tellungen stehen immer öfter in gar keinem Verhältnis zu denen der kleinen Ausstellung, die vermutlich der Ausstellungstyp der nächsten Zukunft sein wird. In Wien ist dafür allerdings schlecht genug vorgesorgt: denn diese Großstadt besitzt, sage und schreibe, eine einzige Privatgalerie, die regelmäßig wertvolle Ausstellungen veranstaltet und schon vielen jungen Kräften ein wirkungsvolles erstes Auftreten ermöglicht hat: die Galerie Würthle in der Weihburggasse. Aber sonst? Die französische „Kosmos'-Buchhandhmg bot eine Zeitlang den radikalen Modernen ein Unterkommen — aber dann wurde sie, was sehr schade ist, liquidationshalber zugesperrt. Die „Neue Galerie' in der Grünangergasse hat schon lange nichts von sich hören lassen, die „Agathongalerie“ am Opernring ging zugrunde, ehe sie noch recht lebte: einzig der Art-Club bemüht sich, in seinem Kellerlokal der Mammutexposition Schach zu bieten. Aber das iet zu wenig für eine Zweimillionen- stadt, in der neben unzähligen mittelmäßigen doch auch nicht ganz so wenig bemerkenswerte Künstler leben, die nicht nur im Rahmen von Massenaufgeboten zu WoTt kommen wollen …

DISSERTATION auf Zelluloid! Das ist des neueste, nachdem nun ein italienischer Doktorand in Mailand an Stelle einer üblichen schriftlichen Arbeit einen Film mit dem Titel „Die Kunst der präromanischen und romanischen Architektur in Mailand“ vorgelegt hat. Der Film soll so gefallen haben, daß diese originelle Form einer Dissertation anerkannt wurde und sein Schöpfer, der 6ich beim Rigorosum nicht weniger auszeichnete, den Doktorgrad erhielt. — Ein erfreulicher, raumgreifender Schritt ins Leben! Unsere Doktorschriften werden künftighin nicht verstauben und allein dem Verfasser und seinem Lehrer bekannt werden, sondern wem sie im Grunde vermeint sind: der lebendigen Wissens ch aft.

C PRECHEN wir Angehörigen des deutschen Sprachkreises wirklich dieselbe Sprache — oder redet nicht der Kaufmann anders als der Jurist, der Gesetzgeber anders als der Staatsbürger? — Es gab einen Film „Nachtwache“, den fast zehn Millionen Menschen gesehen haben. Es nannte ihn einer: sein tiefstes Erlebnis, der Kritiker: den stärksten religiösen Film der deutschen Nachkriegszeit, der Theologe: eine wirksame Predigt, und eine junge Arbeiterin einfach: wunderschön. Und in ihrer jüngsten Ausgabe vom 15. Februar 1952 nennen ihn die „Filmblätter“ (das Organ der Deutschen Filmwirt- schaft) in einem knalligen Titel auf der ersten Seite den „größten Kassenschlager 1951 in Schweden“. Sprechen wir wirklich dieselbe Sprache ?

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