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Irrationales Großeuropa?

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In einer Anwandlung von einer an Resignation grenzenden Lebensweisheit läßt Shakespeare Hamlet die Bemerkung machen, daß wir lieber die Übel, die wir haben, ertragen, als zu unbekannten fliehen.

In den zwei Jahrzehnten der Bemühungen um die Einigung Europas kommen wir seit einem knappen Jahrzehnt nicht mehr weiter, und es hat den Anschein, als ob wir uns auf längere, um nicht zu sagen lange Zeit, mit dem Fortbestand, vielleicht nicht einmal mit dem Ausbau der bestehenden Teilorganisationen der europäischen Integration abfinden müßten. Besonders in letzter Zeit hat der politische und wirtschaftliche Alltag in den bilateralen Beziehungen der europäischen Staaten derart überhand genommen, daß die Enthusiasten der europäischen Integration nur mühsam gegen eine stets drückendere Mutlosigkeit ankämpfen.

Einem brauchbaren Europakonzept kommt man aber näher, wenn man zwei Definitionsformen heranzieht: die eine ist Europa im kulturellen Sinn. Die weit in die Vergangenheit reichenden Wurzeln der europäi schen Kultur haben uns eine kulturelle Gemeinschaft gebracht, die schwerste politische Rückschläge überdauert hat. Trotz schärfster Einwendungen in manchen Kreisen Europas gegen das politische System Spaniens wird von niemandem das, was uns die großen Geister Spaniens geschenkt haben, insbesonders die spanischen Schriftsteller, als allgemein europäisches Kulturgut in

Zweifel gezogen. Vor allem aber gelten diese Überlegungen für den Osten. Eine europäische Kultur ohne den Beitrag der Slawen in allen Belangen kulturellen Schaffens ist überhaupt unvorstellbar. Das gilt nicht nur für den Beitrag Rußlands in Literatur, Musik und darstellender Kunst, sondern auch für alle kleineren slawischen Völker des östlichen Mitteleuropas und des europäischen Südostens. Das gilt aber auch für Ungarn, Rumänen, Griechen und Türken. Die türkische Architektur beispielsweise wurde zum Bestandteil europäischen kulturellen Erbes. Aber diese Zugehörigkeit der osteuropäischen Völker zu uns zeigt sich auch in der Wissenschaft. Was wäre die europäische Medizin ohne den Beitrag beispielsweise der Russen? In allen Belangen der modernen Technik haben die osteuropäischen Völker ihren Platz gefunden. Sehen wir also Europa in kultureller Sicht, so besteht überhaupt keine Frage, wie weit dieses Europa reicht. Die einzige Frage, aus der aber keine politische Konsequenz gezogen zu werden braucht, entspringt der Erkenntnis, daß die europäische Kultur auch weite andere Gebiete der Welt beeinflußte, beispielsweise alle englisch sprechenden Völker in Amerika, Afrika und Ozeanien, den gewaltigen Bereich der lateinamerikanischen Welt durch das Erbe Spaniens, Portugals und Frankreichs. Erkennt man also die politische Strahlungskraft einer gemeinsamen Kultur, trotz natürlicher Ver schiedenheiten, so stellt sich überhaupt nur die Frage, inwieweit unter Berücksichtigung politischer Gegebenheiten der gesamte großeuropäische Raum in eine Integration einbezogen werden kann.

Die zweite taugliche Definitionsgrundlage ergeht aus dem Blickpunkt gemeinsamen Schicksals, dem die europäischen Völker unterworfen sind. Auch Nationen entstanden dadurch, daß auf einem bestimmten Raum lebende Menschen durch längere Zeit hindurch einem gemeinsamen Schicksal, häufig einem gemeinsamen tragischen Schicksal, unterworfen wurden. Es sind ja nicht nur übernommene Gegebenheiten, die das Empfinden der Gemeinsamkeit erzeugen und vor allem aufrecht erhalten, sondern es sind vor allem Nöte und Gefahren, die gemeinsam überwunden, und Aufgaben, die gemeinsam gemeistert werden müssen. Das erzeugt das Empfinden gemeinsamen Schicksals und damit das Empfinden der Zusammengehörigkeit. Eine solche Definition führte zu einem Europa, wie es sich in den letzten 20 Jahren entwickelte: ein Zusammenschluß von Staaten, die sich zunächst durch die stalinistische Invasionsgefahr und in zweiter Linie durch die amerikanische wirtschaftliche und militärische Übermacht bedroht fühlten. Die europäischen Staaten reagierten auf diese doppelten Beeinflussungen von auswärts mit dem Ergebnis, eine gewisse lockere Kernstruktur geschaffen zu haben, wie sie sich besonders in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft manifestiert. Es war also keine originäre Aktion, es war eine sekundäre Reaktion. Aber immerhin, es war eine Folge gemeinsamen Schicksals durch gemeinsam erkannte Gefahr. Das bedeutet zunächst einen sehr eingeschränkten Europabegriff, in dem wir uhs ungefähr bis zum Nachlassen des Kalten Krieges, wenn man so sägen kann, wohl fühlten. Verbleiben wir aber bei dem Konzept des Europa, geprägt durch gemeinsames Schicksal:

Offensichtlich kann der Schritt von Klein-Europa zu Groß-Europa dann vollzogen werden, -wenn das Element der Gemeinsamkeit durch gemeinsame Aufgaben und etwa auch gemeinsame Gefahren, somit das Empfinden gemeinsamen Schicksals sich auch auf die übrigen europäischen Völker ausdehnt. Oder: wenn sich auf der Welt Ereignisse vollziehen, durch die trotz politischer, ideologischer und wirtschaftlicher Differenzen auch die osteuropäischen Völker zur Erkenntnis der Schicksalsgemeinschaft mit den westeuropäischen Völkern, wenn auch erst auf lange Sicht, kommen. Daher ist die Definition des Europa, des gemeinsamen Schicksals keine statische, da ja auch das Schicksal nicht statisch, sondern im höchsten Grad dynamisch ist.

Fassen wir die beiden letzteren Definitionsbegriffe zusammen, so kann man sagen, daß die Politik einer Integration dem Element der kulturellen Einheit Europas dann politische Prägung verleihen kann, wenn alle Völker Europas infolge gemeinsamen Schiciksals bereit sind, ihre kulturelle Einheit in eine politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.

Dazu kommt noch eine Erfahrung, die einmal der Physiker Heisenberg „das unvermeidliche Element der Irrationalität“ genannt hat. Rein nüchtern-kalkulationsmäßig bedeutet natürlich die Form der Integration durch Kooperation zunächst keine Änderung des Status quo in den wichtigen Belangen. Aber verbunden eben mit dem Heisenberg- schen Prinzip der Irrationalität stellt sie doch auslösende Momente für eine weitere Entwicklung dar. Die Kraft des Irrationalen haben wir gerade in diesen Wochen und Monaten im Guten wie im Bösen gesehen, in der CSSR und in Frankreich. Das lange gezügelte Irrationale durchbricht doch letzten Endes die Mauer des Rationalen. Gestützt auf diese vielleicht kühne Überlegung dürfen wir die Bemühungen um die Verwirklichung der großeuropäischen Idee nicht aufgeben. Europa wird nicht deshalb kommen, weil, auch wenn wir tatenlos sind, der gleichsam natürliche Gang der Geschichte es uns eines Tages doch schenken wird. Europa wird nicht deshalb nicht kommen, weil einfach die natürlichen Kräfte des Widerstandes zu groß und daher die gegenteiligen Bemühungen erfolglos sind. Die europäische Integration kommt dann, wenn man sie will. Unsere Aufgabe besteht darin, dieses Wollen durch neue Ideen und neue Pläne, durch flexible Methoden und einfallsreiche Vorschläge, kurzum durch Handeln, zur Wirklichkeit werden zu lassen.

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