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Ist der Film Kunst?

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Die folgenden Betrachtungen gipfeln in dem Satz, daß zwischen Kunst und Film unüberbrückbare Unterschiede bestehen. Man wird wahrscheinlich diese These nidit überall anerkennen wollen. Aber der Beitrag erscheint uns doch charakteristisch als eine Stellungnahme der jungen Generation zu den Problemen des Films.Die Furche

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Die folgenden Betrachtungen gipfeln in dem Satz, daß zwischen Kunst und Film unüberbrückbare Unterschiede bestehen. Man wird wahrscheinlich diese These nidit überall anerkennen wollen. Aber der Beitrag erscheint uns doch charakteristisch als eine Stellungnahme der jungen Generation zu den Problemen des Films.Die Furche

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Das Theater bedient sich der Technik, es“ macht Gebrauch von Drehbühnen, Versenkungen, bietet Platz füi die vielfältige Verwendungsmöglichkeit der Elektrizität. Aber es kann auch darauf verzichten, ja die neueste dramatische Dichtung läßt bewußt alle Hilfsmittel der Technik — man denke zum Beispiel an Wilders „Kleine Stadt“ — beiseite. Dem Theater ist die Technik Requisit, das entbehrlich ist.

Der Film ist ohne Technik undenkbar — er ist die Technik selbst. Die Lage ist umgekehrt: Der Film bedient sich der dem Theater eigenen Mittel.

Dementsprechend kann er hauptsächlich nach zwei Gesichtspunkten beurteilt werden, erstens nach rein technischen Kri-* terien, wie Photographie, Tonwiedergabe, Ausschöpfung technischer Möglichkeiten,wie Trickaufnahmen und Ähnlichem. Eine kunstkr i t i sche Beurteilung kann diesbezüglich nicht erfolgen, diese kann nur die schauspielerischen Leistungen betreffen. Tatsächlich gibt der Film dem Schauspieler Möglichkeiten zur Entfaltung, die auf der Bühne nicht vorhanden sind. Großaufnahmen, die auch die kleinste Bewegung, die leiseste Regung eines Gesichtsmuskels zu zeigen imstande sind, Rollen, die sich dem Darsteller anpassen, nicht umgekehrt, wie es Normalfall auf dem Theater ist. Zweifellos hat der Film eine Virtuosität der schauspielerischen Darstellung gezeitigt, die nicht ohne Wirkung auf die dramatische Kunst des Theaters geblieben ist.

Nun ist aber der Schauspieler letztlich nicht produzierender, sondern „reproduzierender“ Künstler, das Kunstwerk ist nicht die Darstellung, sondern das Textbuch, beziehungsweise die Partitur, während der Schauspieler oder Sänger das vermittelnde Medium ist, Ein dramatisches Werk wird durch seine Aufführung also einmal reproduziert, denn zwischen Dichter und Publikum steht nur der Schauspieler. Einmalig ist auch die Wiedergabe, denn eine Aufführung kann sich von einer anderen desselben Stückes sehr unterscheiden, da die Stimmung des Ensembles und äußere Umstände unberechenbaren Veränderungen unterliegen können.

Ganz anders beim Film. Hier steht zwischen Schauspieler und Publikum noch das Medium der Leinwand, des Lichts, des Filmstreifens. Reproduzierende Kunst wird also noch einmal reproduziert. Das Drehbuch — das wenigstens theoretisch ein Kunstwerk sein könnte — muß sich aLso eine zweimalige Übertragung gefallen lassen und es ist nur natürlich, daß dadurch der ursprüngliche Vorwurf zumindest verändert wird. Immerhin müßte ein gutes Drehbuch seine primäre Bedeutung wahren können. In der Theorie, denn praktisch ist es so, daß der durchschnittliche Kinobesucher die Besetzung, seine Lieblingstars. im besten Falle noch den Namen des Regisseurs kennt. Der Schöpfer des Drehbuches ist so gut wie anonym. Bei einer Theateraufführung ist das Textbuch Vorbedingung — das Drehbuch des Films ist Vorwand, der dem Star Gelegenheit gibt, sieb „auszuspielen“. Der Schwerpunkt hat sich also verlagert. Dies ist sicherlich ein Grund dafür, daß ein Drehbuch von wirklichem künstlerischem Rang noch nicht geschrieben wurde. Ein weiterer sehr einfacher Grund für diesen Mangel liegt darin, daß die Zahl der jährlich neu gedrehten Filme sehr Hoch, die Zahl hervorragender Dichtungen mini-*il ist. Möglicherweise aber könnten auch wenige Anspruch auf Kunstwert, erhebende Filme das Durchschnittsniveau bedeutend erhöhen, jedoch scheinen Autoren von Rang dem Film mit einer instinktiven Abneigung gegenüberzustehen — gewissermaßen fürchtend, ihre Kinder k chlechte Gesellschaft zu bringen —, und zwar ans dem sicheren Gefühl heraus, daß rwischen Film und Kunst ein Unterschied besteht, der nicht ohne weiteres zu überbrücken ist.

Prinzipielle Unterschiede wurden damit bereits angedeutet; aber die Ursachen liegen noch tiefer. Eine weitergehende; Betrachtung dieser Probleme führt notwendigerweise zu der alten Polaritätsfrage Vorbild-Abbild. Jedes Kunstwerk ist seinem Wesen nach Stilisierung seines Vorbildes. Selbst die naturalistische Kunst konnte niemals bloßer Abklatsch, Photographie der Natur sein. Der Künstler verändert, läßt Unwesentliches aus, rückt Wesentliches in den Vordergrund. Gewiß, das gibt es auch beim Film, aber nicht in diesem Maß. Hier ist die Stilisierung gerade noch stark genug, um den Zusammenhang und den Ablauf der Handlung zu gewährleisten. Von einem modernen Bild ist das oft Gehörte: „So natürlich wie im Leben!“ fast schon eine schlechte Kritik, derselbe Ausspruch angesichts eines Films aber dicbeste Beurteilung, deren er fähig ist.

Die Wirkung eines Kunstwerkes wird wesentlich von zwei Faktoren bestimmt: seiner Einmaligkeit und seiner Zeitlosigkeit. Die „Moria Lisa“ existiert nur ein einziges Mal. Gäbe es fünfzig Mona-Lisa-Bilder, die einander völlig glichen, hätte sie in unseren Augen wahrscheinlich nichts „Besonderes“, ihre Wirkung wäre gewissermaßen in fünfzig Teile geteilt. Eine Theateraufführung ist ebenfalls einmalig, wie schon gesagt wurde, den Verzweiflungsausbruch einer Filmdiva dagegen kann man sich dreimal täglich anschauen und er wird immer der selbe sein. Es liegt fast etwas Dämonisch-Groteskes in der Vorstellung, daß im Laufe eines Nachmittags in einigen hundert Kinos der Welt derselbe sympathische Detektiv denselben unsympathischen Bösewicht mit derselben großen Pistole in Schach hält.

Einen zeitlosen Film gibt es nicht. Entweder kann man nach fünf Jahren einen Film nicht ernst nehmen, weil die Technik uns an bessere Photographien gewöhnt hat oder weil er durch inzwischen altmodisch gewordene Frisuren und Kleider ungenießbar geworden ist. \

Ähnliche tiefgreifende Differenzen tauchen auf, wenn man das Verhältnis Publikum-Theater, beziehungsweise Publikum-Film in Betracht zieht. Das Theater will auch jetzt noch Furcht und Mitleid erregen, es will — eine Tendenz, die gerade heute wieder sehr stark ist — unerbittlich Wahrheiten sagen, selbst auf die Gefahr hin, „unerquicklich“ zu sein. Es verlangt Aufmerksamkeit, Mitdenken, stellt Anforderungen. Auch heute noch ist ein Theaterbesuch etwas Besonderes, fast eine kleine feierliche Handlung, zu der man seinen besten Anzug anzieht.

Nichts davon beim Film. Ins Kino geht man, „weil man gerade nichts zu tun hat“, man geht zwischen Arbeitsschluß, und Abendessen, braucht Anfofderungen nicht zu befürchten, alles ist so gemacht„ daß es jeder verstehen kann, alles ist so deutlich, daß man nicht mitzudenken braucht. Die Angst, zu sehr erschüttert zu werden oder Unangenehmes hören zu müssen, ist hinfällig. Ein frisches Hemd braucht man zu einer Kinovorstellung auch nicht anzuziehen.

Damit ist dem Kino Uberschrift und Urteil gegeben. Es ist eine Massen-„Kunst“, die ohne die Masse undenkbar ist. Es muß das Niveau so berechnen, daß es jedermann versteht. Wenn ein Palast, ein Kleid, ein Luxusraum gezeigt wird, müssen sie so sein, daß jeder Zuschauer sofort weiß; das ist prachtvoll. Die Folge dar von ist, daß die Wirkung des Films nur eine nivellierende sein kann.

Trotzdem muß dies nicht ein Qualitätsurteil über den Film im allgemeinen sein. Es soll hur versucht werden, die letztlich unüberbrückbaren Unterschiede zwischen Kunst und Film aufzuweisen. Damit aber ist keineswegs gesagt, daß, wenn der Film auch nicht Kunstwerk sein, er nicht starke kürstierische Elemente in sich haben, starke künstlerische Effekte erzielen kann. Das gibt es schließlich ja auch auf anderen Gebieten.

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