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Jugoslawische Literatur von heute

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Wien müßte seine kulturellen Leistungen vergessen, wollte es aufhören, Interesse für das kulturelle Schaffen der slawischen Nachbarn zu bekunden. Das geistige Leben der Metropole der ehemaligen Völkermonarchie war es, das zum großen Teil den slawischen Völkern des Landes die Tore zum europäischen Kulturschaffen öffnete. Den Grundstein dazu legte die glänzende Tradition der Wiener slawistischen Schule, da sie die fundamentalen sprachlichen Voraussetzungen für die Entwicklung eigener nationaler Kulturen der slawischen Völker schuf. War ein Sohn der völkerreichen Donaumonarchie, der sich zu etwas Höherem berufen fühlte, nicht unmittelbar in den Bann der glänzenden Hauptstadt geraten, so war er dennoch der permanent wirkenden Strahlungskraft des großen kulturellen Mittelpunktes ausgesetzt, der sein Weltbild formte. Dieser Einfluß auf die schöpferischen Kräfte des südosteuropäischen Raums, ein Fragenkomplex, der noch einer eingehenden Erforschung harrt, klingt noch heute deutlich vernehmbar im kulturellen Schaffen der Nachfolgestaaten nach.

Das ehemalige Königreich Jugoslawien hat sich heute völkisch in einen Mosaikstaat von fünf gleichberechtigten Völkern, politisch in eine Föderation von sechs Volksrepubliken: Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Montenegro verwandelt. Dem durch landschaftliche Verschiedenheit, nationale Zugehörigkeit, kulturelle Tradition der Bewohner, fremde Einflußsphären stark differenzierten äußeren Bild des Landes entspricht auch die Buntheit des kulturellen Schaffens der Bewohner. Begreiflicherweise ist diese Mannigfaltigkeit am stärksten im bodenständigen Schrifttum spürbar. Alle nationalen Literaturen der Südslawen aber lassen in der unmittelbar hinter uns liegenden Entwicklungsphase, die jetzt vor dem Auftauchen neuer revolutionärer Tendenzen einen gewissen Abschluß gefunden hat, deutlich ein gemeinsames Merkmal erkennen: das Suchen nach eigenvölkischem Wesen und dessen dichterischen Ausdruck. Diesem Streben ist das Werk der größten Geister gewidmet. Die Dichtung ist eng mit den Idealen und dem Lebensrhythmus des Volkes verbunden. Viel stärker als bei großen, entwickelten Literaturen trägt das Schrifttum kleiner Völker den Stempel der sozialen und nationalen Welt, der die Dichter entstammen. Bleiben weniger starke oder noch nicht zur endgültigen Reife gelangte Talente in persönlicher Problematik, fremden Formen und Gedankeneinflüssen hängen, so werden die besten, stärksten Kräfte durch das Erbe fremder Dichtungen nur bereichert; fruchtbare Spannungen führen sie zu Spitzenleistungen persönlich durchgebildeter, künstlerisch hochwertiger Formen, wobei in ihrem reifsten Schaffen wieder die Melodie des Bodenständigen, Volkstümlichen aufklingt. Sie werden zu Schöpfern echter nationaler Kultur.

Im Vergleich zur Wegelosigkeit und expressionistischen Formlosigkeit, die unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg in der südslawischen Literatur herrschten und je nach dem sozialen und nationalen Profil ihrer Umgebung zeitlich verschieden, organisch oder sprunghaft abklangen“, kann man heute, nach dem zweiten Weltkrieg, trotz Erschütterungen, die Widerstandsbewegung und soziale Revolution mit sich brachten und vorwiegend in einer an fremden Vorbildern hängenden jungen Sozialrevolutionären Lyrik zum Ausdruck kamen, eine einheitlichere, dem erweiterten Realismus und neuer Sachlichkeit nähere Form der dichterischen Darstellung beobachten. Der Grundcharakter der Dichtung blieb nach wie vor rustikal.

Die stürmischen Träger der jüngsten marxistischen literarischen Produktion, die sich nach dem Siege ihrer Bewegung wie eine Flut über das Land ergoß, haben nicht den Grad der Reife erlangt, Um über die Grenzen ihres Landes wirken zu können. Läßt man sie beiseite, so gelangt man zur Feststellung, daß sich das Bild des neuzeitlichen jugoslawischen Schrifttums, wenn man es dem des ersten Staates gegenüberhält, wenig geändert hat: die großen nationalen Dichter haben an Bedeutung nicht eingebüßt. Schriftsteller und Dichter, die bereits im ersten Staat, angelehnt an den politisch und Sozialrevolutionär ausgerichteten Teil des europäischen Naturalismus, eine mehr oder weniger starke Sozialrevolutionäre Note trugen — es waren das in erster Linie die literarischen Kreise des ehemaligen österreichisch - ungarischen Raumes —, sind natürlich unter den neuen Verhältnissen in den Vordergrund gerückt und haben einen erheblichen geistigen Beitrag zur jetzigen politischen Entwicklung geleistet. In Zagreb ist es der Kreis um den bedeutendsten Vertreter dieser Richtung in Jugoslawien, den kroatischen Dichter K r 1 e z a, in Laibach — Ljubljana — sind es die Epigonen des Schöpfers der slowenischen Prosa, C a n k a r.

Hart traf das slowenische und kroatische Volk 1944 der Tod ihrer großen Dichter, des Slowenen Oton 2 u p a n c i 8 und des Kroaten Wladimir N a z o r, zweier Gipfel der eine Menschengenera-tion umfassenden Entwicklung bürgerlich-nationaler Kultur der Südslawen. Schicksalsschwer sind die Auswirkungen dieses Verlusts für das weitere Leben der südslawischen Kultur. Beide führten geistig ihre Völker vom Erwachen eines selbständigen kulturellen Willens in der Monarchie, durch das bewegte Leben im ersten Staate bis zur zweiten Geburt, über Zeiträume gewaltiger, tiefgreifender sozialer und nationaler Umwälzungen daheim und in der Welt.

Im Alter von 73 Jahren starb N a z o r: Eine Adriainsel (Brac) ist seine Heimat, in seinem Gemüt brennt dalmatinische Sonne, in seiner Vitalität, seinem Naturempfinden herrscht kerniges naturverbundenes, adriatisches Fischertum. Von zu Hause bekam er mit auf den Lebensweg das Erbe dalmato-romanischer Kultur. Lateinische Klassiker, italienische Renaissance formten seinen Geist, die österreichische Universitätsstadt Graz setzte ihn dem Geist der europäischen Kultur um die Jahrhundertwende aus. So wurde er, immer dem Pulsschlag seines Volkes nah, zum kroatischen Klassiker humanistischer Prägung — ein Meltrovic der kroatischen Dichtung. Im Schöße seines Volkes schuf er ein reiches Lebenswerk; an die vierzig Bücher, Lyrik, Epik, Jugendschrifttum, historische Romane Essays. — Mitten im Sturm schweren Ringens reichte er, ein 67jähriger pensionierter Professor der Naturwissenschaften, im Jahre 1943 vor die Entscheidung gestellt, der neuen Sozialrevolutionären politischen Richtung, da sie zum entscheidenden Faktor der Widerstandsbewegung wurde, die Hand.

In der gleichen Woche starb 2 u-p a n i i 8. Hob sein Weggefährte Can-kar, den er um 30 Jahre überleben konnte, die slowenische Prosa auf europäische Höhe, so gilt er als Vollender slowenischer Lyrik. Ihm wie Cankar erschloß Wien, als kulturelles Zentrum der Monarchie, das geistige Leben seiner Zeit. Der sensible Bauernjunge erlebte hier, vom Straßenrande aus, den Platz, den ihm der leere Geldbeutel einräumte, das große geistige Herbstwerden, die Müdigkeit einer überfeinerten Kultur, den Impressionismus, die Decadence — inklusive Wiener Kaffeehauskultur, Siegmund Freud und Karl Kraus — dieser Stadt um die Jahrhundertwende, ohne “aber, wie sein Landsmann, dabei einer radikalen sozial-utopischen Tendenz des Naturalismus zu verfallen und an ihr zu zerbrechen. Er, der Sohn der volkskunstdurchtränkten Bela Krajina, mit einer starken intellektuellen Begabung, wurde durch das Erbe europäischer Dichtung zum Schöpfer der schönsten Blüten slowenischer Lyrik. Was Cankar naturalistisch verzerrt mit Ironie und Satire geißelte — formt Zupanöic in tiefempfundener, bis zur letzten Einfachheit und Klarheit vollendeter Sprache. Sein Stil reichte vom Wiener Naturalismus, über poetischen Realismus bis ziir klassischen Harmonie von Wort und Gedanke im Rhythmus echt slowenischer Volksweisen. Der weitgespannte Horizont, der sein geistiges Leben und Schaffen auszeichnet, stempelt ihn zum Dichter slowenischen geistigen Europäertums. Kein anderer brachte die Großen der Weltliteratur in so meisterhaften Ubersetzungen seinem Volke nah, niemand vermochte bisher die subtilsten Schöpfungen ausländischer Lyrik so formvollendet in seiner Sprache nachzuempfinden und zum Ausdruck bringen. Auch er sang in der Zeit, als es um Sein oder Nichtsein seines Volkes ging, vom Krankenbette aus, Kampflieder für die Jugend, die in den Wäldern Sloweniens kämpfte.

Unter den heute lebenden Dichtern Jugoslawiens nimmt eine zentrale Stellung der ausgezeichnete serbische Erzähler und Novellist Ivo Andrifi ein. Er stammt aus Bosnien, dem bunten slawisch-christlich-türkischen Schicksalsraum auf dem Balkan, mit komplizierter nationaler und sozialer Struktur. Zeitlich und räumlich tief spiegeln sich in seinen farbenfrohen, packenden Erzählungen, Novellen und historischen Romanen die Vergangenheit und Gegenwart seiner Heimat und ihrer Menschen, des orientalisch-universellen und nationalen Patriarchats.

Ivo Andric und seine Altersgenossen, mögen sie aus dem slowenischen, kroatischen oder serbischen Raum stammen, stellen heute die Generation dar, der die Aufgabe zukommt, das reiche literarische Erbe der südslawischen, vom Bürgertum getragenen literarischen Tradition einer stürmisch nach den Fahnen greifenden, jungen Generation, die eine soziale Revolution emporhob, zu übergeben und dadurch zu läutern.

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