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Kadenz — Form — Linie

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Als vor 20 Jahren Dr. Wolfgang Steinecke im Jagdschloß Kranichstein bei Darmstadt die Ferienkurse für Neue Musik ins Leben rief, waren sie in erster Linie auf Information ausgerichtet. Da galt die Neuorientierung Strawinsky, Bartok, Hindemith und Schönberg sowie der zweiten „Wiener Schule“. Es begann also mit dem Neubarock, erreichte aber bald die Kompositionsweise mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen, ging dann zu den weiteren Progressionen in der seriellen und punktuellen Musik über, um schließlich bei den Strukturen und Parametern für Dauer und Dynamik zu landen. Seit zehn Jahren sind auch die Klangfarben der Elektronik einbezogen.

Um den jungen Komponisten eine ideale Möglichkeit, ihre Arbeiten klingen zu hören, zu bieten, wurde das Internationale Kammerensemble, dem Künstler, wie Gazzelloni Faber, Diestel, Parrenin, Pennasson und die Brüder Kon-tarsky, angehören, gegründet. Zusätzlich stehen und standen Kompositions- und Interpretationskurse im Mittelpunkt. Im heurigen Jahr (XX. Jubiläum) konnte der jetzige Leiter des Instituts, Ernst Thomas, auch ein ausländisches hundert-köpflges Orchester (Residenz Orchester Den Haag) gewinnen, das unter Pierre Boulez und Bruno Maderna Werke von Charles Ives (Three Places in New England), Peter Schrat (Tänze aus dem Labyrinth), Anton Webern (Fünf Sätze op. 5), Pierre Boulez (Doubles), Kees van

Baaren (Concerto per pianoforte), Liffeti (Athmospheres) und Bruno Maderna (Hyperion II) zur Aufführung brachten. Die bis auf den letzten Platz gefüllte Darmstädter Stadthalle und der lebhafte Applaus waren Beweis genug, daß auch der „Neuen Musik“ — leider nicht bei uns — großes Interesse entgegengebracht werden kann.

Die Werke beider Konzerte zeigten das heutige Spiel mit den Möglichkeiten. So bei Ives die polyrhyth-mische Koppelung zweier Märsche mit verschiedenen Zeitmaßen, mächtigen Aufballungen im Kontrast mit zartesten Mixturen, bei Webern die komprimierte Dichte des Ausdrucks und der Klanggeste, bei Schrat Vibrationen, hervorgerufen durch Schlagwerkkaskaden, dazu moderne Spaltklänge, erzeugt durch extreme Lagen und Techniken der Instrumente mit diffuser Auafächerung ins Lineare, bei Boulez die melodiöse Einstränigkeit usw. Die Interpretation der durchwegs gegensätzlichen Werke wurde von den beiden Dirigenten souverän gestaltet. Es fehlte nirgends an Intensität, Homogenität und Plastik, wobei dem Orchester ein Hauptanteil gebührt.

Die heurigen Darmstädter Ferienkurse waren aber auch im Hinblick auf die Kursteilnehmer und Vortragenden durchaus international. Neben 25 Prozent Deutschen waren Franzosen, Italiener, Amerikaner, Jugoslawen, Griechen, Tschechen und Vertreter Südamerikas anwesend. Das Kongreßthema des heurigen Jahres hieß: „Form in

Neuer Musik“, zu dem sich Praktiker, Wissenschaftler und Komponisten äußerten. Theodor W. Adorno stellte in seinem Eröffnungsvortrag, der höchst konzentriert formuliert war, die Entwicklung der Formphantasie an die Spitze. Formgefühl nannte er, der Musik dorthin nachhorchen, wohin sie von sich aus will. Das neue Verständnis zur Linie fordert Formgefühl. Die entscheidende Frage war die, wie sich Plan und Wirklichkeit zueinander verhalten. Die geistvoll-brillantesten Betrachtungen lieferte allerdings Pierre Boulez, die im Ausspruch „Form heißt, sein Leben verteidigen“, gipfelten. Die oft etwas zu diffizilen Untersuchungen mündeten häufig ins Ästhetische, ins Philosophische oder Phantastische. Ergebnis: Es können zur gleichen Zeit verschiedene Systeme der Sache dienen, entscheidend ist, wie man am besten zum gewünschten formalen und klanglichen Resultat kommt. Die mannigfaltigen Reflexe modernistischer Kompositionsweise waren zwar nicht in allen Fällen eine Verbeugung vor den Erfordernissen der Möglichkeiten neuer musikalischer Realität, zeigten aber vorbildlich die Entwicklungsformen. Im Falle von ganz neuen Medien, wie es zum Beispiel das elektronische Studio ist, wird eine organische Weiterbildung erst den Beweis bringen, welche Auseinandersetzungen zwischen der kompositorischen Idee und den Realitäten der Systeme und Techniken noch notwendig sind.

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