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Kanadisches Phänomen

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Unser amerikanischer Mitarbeiter sendet uns folgende Schilderung einer Fahrt durch einen Teil Kanadas.

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Unser amerikanischer Mitarbeiter sendet uns folgende Schilderung einer Fahrt durch einen Teil Kanadas.

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Die Welt der Wolkenkratzer und Maschinen, die den Europäer in Amerika ebenso bedrückt wie in der Jagd nach Erwerb wachhält, hat mich noch in ihren Fängen gehalten, als ich neulich mit einem Motorboot jenes Gebiet durchfuhr, das geographisch als das Gebiet der „Thousand Islands" bekannt ist. Das war noch jenseits der kanadischen Grenze, dort, wo der Sankt-Laurenz-Strom seine Wasser aus dem Ontariosee schöpft, um sie auf seinen breiten Schultern dem Atlantischen Ozean zuzutragen. Heute ist der Ursprung dieses gewaltigen Stromes, auf dem die Riesen des Meeres fast 1000 Meilen bis nach Montreal fahren, ein Gewirr von 1800 kleinen und großen Inseln, die zu besuchen eines Führers bedarf. Die „Thousand Islands“ sind keineswegs ein undurchdringliches Dschungelgebiet, sondern die Sommer-

domäne der amerikanischen Hocharistokratie, jener Aristokratie, deren Adel größtenteils vom Besitz an Reichtümern seiner Träger abgeleitet wird. Die meisten der Inseln sind Privatbesitz. Der Führer hat mir viele Namen und hohe Dollarziffem genannt, und in seiner Erklärung versammelten sich die Präsidenten von Radiokonzemen, Stahlfirmen und Bankhäusern und die Könige über Papier, Holz und Zement in imposanter Vielfalt. Unter ihnen befand sich auch Mister George Boldt, Eigentümer des Waldorf- Astoria-Hotels und anderer berühmter Herbergen, der eine Insel kaufte, sie in der Form eines Herzes umbaute und auf ihr eine Burg errichten ließ, die er aus Schottland, in Kisten verpackt, importierte. Ich sah sie vor mir mit ihren Mauern und Türmen und Zinnen. Als seine Frau unerwartet starb, wurde der Bau eingestellt. Nur die Fassade steht. Eie Burg ist eine leere Hülse. Jener Teil, der ihr erst den Inhalt geben sollte, blieb unvollendet. Ein Symbol?

Eine Stunde später hatte ich über die „International Bridge“ die kanadische Grenze überschritten und damit hörte für mich zunächst die amerikanische Welt auf. Auf der rechten Seite der Autostraße grüßte mich ein Zeichen unter einer Krone „Kings Highway Number 2". Da ich es vergessen hatte, erinnerte mich das Straßenzeichen daran, daß ich mich in einer Monarchie befand, denn Kanada ist eine Monarchie und der König von England ist ihr Oberhaupt. — Heute sitze ich im Chateau Frontenac in Quebeck, das die Canadian-Pacific-Eisenbahngesell- schaft zu einem mächtigen Hotel umgestaltet hat, und wenn ich durch die Fenster meines Zimmers auf die Stadt vor mir blicke, bedarf es eines nüchternen Zurückrufens in die Wirklichkeit, damit ich nicht vergesse, daß ich mich noch immer auf dem amerikanischen Kontinent in einem britischen Dominic befinde, dessen Bevölkerung sich in englischer Sprache verständigen sollte. D fällt mein Blick auf französische Straßennamen. „Arretez" ruft eine Tafel dem Autofahrer zu anstatt „Stop“, die Schule heißt nicht mehr „School“, sondern „L’Ecole“, das „Musfe Historique" ladet zum Genuß seiner historischen, das „Cafe Chez-Emile" seiner kulinarischen Genüsse ein. Als ich vorhin die winkeligen Gassen der Stadt, die selbst der Wiener kaum Straßen zu nennen wagen würde, bergauf und bergab, über granitene Pflastersteine, an Burgmauern und kleinen steinernen Häusern vorbei durch alte Burgtore wanderte, geschah es dreimal, daß mir ein Quebecker, nach der Richtung befragt, keine Antwort geben konnte. „Do you speak English?“ — „Non Monsieur." Man hat mir viele Standbilder gezeigt — ein ungewohnter Anblick in den Staaten —, und vor dem Denkmal Louis’ XIV., dem französischen Sonnenkönig, schob sich eine dunkle Wolke der Erinnerung an eine Gedenktafel, die ich wenige Tage vorher im Staate New York in Watertown gesehen habe: „Hier errichtete Frank Winfield Woolworth sein erstes 5-und-lO-Cents-Geschäft“.

. Man bezeichnet Kanada als einen geographischen Koloß. Der mit Länderkunde nicht bewanderte Europäer verbindet es meist mit den Erzählungen über den Gold Rush, mit den Abenteuern der Pelzjäger und Holzfäller, mit Wald- und Eis, Bären und Rentieren, Eskimos und halbzivilisierten Indianerstämmen. Er hat kaum eine Vorstellung von der Größe dieses Landes, das sich über den breitesten Teil Nordamerikas von Neufundland und Neu-Schottland bis nach British Columbia und dem Vancouver Islands erstreckt, indem sich Prärie und bewässertes Gebiet, Wildnis und fruchtbares Land die Waage halten, in dem die Hebung der geheimen Schätze des Bodens erst am Beginn steht, von dessen Getreidefeldern im Westen das Wohl und Wehe ganzer Völker abhängt, das von den Vereinigten Staaten im Süden bis hoch hinauf in die nördlichsten Regionen des Globus reicht, das größer ist als die USA, in dem Europa mehr als zweimal Platz finden würde und in dem nur zwölf Millionen Menschen leben. Nur wenige haben eine Vorstellung von der Eigenart seiner Bevölkerung, von seiner wirtschaftlichen und politischen Zusammensetzung und von der Rolle, die Kanada heute in der internationalen Politik und Wirtschaft spielt. Das Phänomen der Erhaltung des französischen Einflusses in diesem dem britischen Imperium zugehörigen Land, tritt in der Provinz Quebeck mit seinen beiden Städten Montreal mehr als eine Million Bewohner und in Quebeck-Stadt 160.000 so sehr zutage, als daß es hier übersehen werden könnte. Dieses Phänomen wirft Licht und Scharten auf alle Fragen, die Kanada und seine Bevölkerung bewegt haben und je bewegen werden.

Von der rund zwölf Millionen betragenden Bevölkerung Kanadas sind rund 5% Millionen britischer Abkunft, ob sie nun als Immigranten aus der Alten Welt oder als englische Loyalsten zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges aus den Staaten eingewandert sind. Zwei Millionen sind Abkömmlinge verschiedener Nationen und fast 4% Millionen werden von dem französischen Element Kanadas absorbiert. Ich habe absichtlich die Bezeichnung „französisches Element“ gewählt, denn man kann nicht sagen, daß dieser hohe Prozentsatz — in Montreal 80 Prozent, in Quebedc-Stadt fast 95 Prozent — direkt aus Frankreich eingewandert ist. Zwanzig Meilen von Quebeck entfernt liegt Valcatier, seinerzeit von irischen und schottischen Soldaten, die an der Eroberung Quebecks durch die Engländer teilgenommen hatten, begründet. Ihre Abkömmlinge sprechen kein Wort mehr englisch. Sie wur- den von ihrer französischen Umwelt völlig absorbiert. Die direkte Einwanderung aus Frankreidt nach „New France", wie die seinerzeitigen Erforscher Kanadas das Land hießen, wird auf nur 10.000 bis 20.000 Männer geschätzt, die sich, infolge des völligen Fehlens europäischer Frauen ausschließlich mit Indianerinnen vermischten. Was heute als der Französisch-Kanadier bezeichnet wird, hat also zum alten Mutterland keine persönlichen Beziehungen mehr. Und doch hat sich der französische Charakter, die Sprache und Sitten, die ganze Lebensart in diesem stark bevölkerten Teil Kanadas in seiner Intensität erhalten. Es ist unverkennbar, daß die Verbundenheit des französischen Kanadiers sowohl als auch des französischen Europäers mit der katholischen Kirche der ausschlaggebende Faktor für dieses Phänomen ist. Ich vermag nicht, im Rahmen dieses Aufsatzes die geschichtlichen Hintergründe dieser Verbundenheit zu erläutern, obwohl sie interessant genug sind — etwa die Rolle, die die Jesuiten in der Erforschung des Landes spielten, den Gewinn, den Kanada, in dessen großer Provinz Quebeck erst im Jahre 1943 die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, in seinem Erziehungswesen katholischen Priestern verdankt, die unvergänglichen Werke der geistlichen Schwestern am Gesundheitswesen, die Tatsache, daß während einer langen Periode der Priester der einzig befähigte politische Vertreter des Volkes in der Regierung war —, aber alles das, was sich nach außen hin dem Auge des reisenden Gastes aus dieser Verbundenheit heraus darbietet und dem an das amerikanische Bild gewöhnten Europäer auffällt, ist schon einer Erwähnung wert.

Kurz nach Überschreiten der Grenze entdecke ich den ersten Friedhof mit kreuzgeschmückten Grabmalen. Die Ortschaften, die ich durchfahre, tragen in überwiegender Zahl die Namen von Heiligen. Der Wegweiser zeigt nach St.-Thomas und nach St.-Antoine, ein anderer nach St.-Paul und St.-Esprit. Kirchen grüßen uns in jeder Ortschaft, aus Stein gebaut, mit hohen Türmen, das Standbild Gottes vor dem Tor. Dort drüben, am anderen Ufer des St.-Laurenz- Stromes, winkt ein kanadisches Melk. Priester und Nonnen beleben die kleinen, gepflegten Anlagen vor den Gotteshäusern oder die Gassen der Dörfer, und als ich einem geistlichen Herrn die Fahrt in meinem Wagen bis zur nächsten Ortschaft anbiete — da er doch gerade den Autobus versäumte —, reicht er meiner Frau seine Zeitung, und die heißt nicht „Le Journal" oder „Matin“ oder dergleichen, sondern sie ist die größte täglich erscheinende Zeitung der Provinz und heißt „L’Action Catholique". Aber die größte Konzentration an katholischer Kultur tritt in Montreal und Quebeck-Stadt durch die Spitäler, Schulen, Universitäten, Konvente der Orden zutage. In Montreal sind der Zeugen so viele, daß ich nur die St.-Josephs- Kathedrale und die Notre-Dame-Kirche erwähne, deren Würde und künstlerische Gestaltung berühmten europäischen Gotteshäusern nicht nachstehen. Der Anblick der auf den breiten Stufen vor der St.-Josephs- Kathedrale knienden Gläubigen, den Rosenkranz zwischen den Fingern und mit Gebeten um Erlösung von Leiden auf den Lippen, wird mir, der ich seit meinem Verlassen der österreichischen Heimat in den USA ein solches Bild nie mehr gesehen habe, unvergeßlich bleiben.

Nur 20 km von Quebeck entfernt liegt St.-Anne-de-Beaupr auf der Nordseite des St.-Laurenz-Stromes. Bretonische Seeleute er-richteten an dieser Stelle ihrer Schutzheiligen zum Danke für ihre glückliche Landung nach stürmischer Fahrt im Jahre 1658 eine kleine Kapelle. Ebbe und Flut des Atlantischen Ozeans, dessen Kräfte fast 1000 Meilen stromaufwärts bis nach Quebeck und Montreal reichen, haben diese Kapelle allerdings zerstört. Die neue Basilika verwahrt als kostbarsten Schatz ein Fingerglied Saint-Annes, die „große Monstranz“ und ein wertvolles Meßgewand, ein Geschenk der Königin Anna von Österreich, Tochter Philipps III. von Spanien. St.-Anne-de-Beaupr6 ist das berühmteste Pilgerziel auf dem amerikanischen Kontinent.

Die Erhaltung lateinischer Kultur, französischer Sprache und Sitten in einem derartigen Umfang, wie dies in „New France" zutage tritt, inmitten eines Staates, der einen wichtigen Teil des britischen Imperiums bildet und der umgeben ist von durchwegs von anglo-saxonischer Seite beeinflußter Umwelt, ist meines Wissens ein in der ganzen Welt einzig dastehendes Phänomen, das auch in dem lateinischen Südamerika keine Parallele besitzt, da dieses ein in sich abgeschlossenes, geographisches und kulturelles Ganzes bildet. Wohl hat an ihm die kluge englische Kolonialpolitik Anteil, die dem Französisch- Kanadier die Rechte und Sitten seiner Vorväter verbriefte, seine wahre Ursache aber liegt viel tiefer:

Wenn behauptet wird, daß Land — Erde — ein Volk zu einem Volk macht, seinen Charakter formt und seine Kraft als Einzelmensch und als Nation bestimmt, wird dies jedenfalls von dem Französisch-Kanadier widerlegt, denn seine heutige Existenz verdankt er unzweifelhaft seinem Glauben.

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