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Kein Thing von Revanchisten

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Die Pfingsten brachten für Stuttgart kurzfristig starken, ethnisch homogenen Zuwachs aus allen vier Windrichtungen: von der östlichen Propaganda als „Zusammenrottung“ verschrien, wurde in der schwäbischen Hauptstadt der XIX. Sudetendeutsche Tag abgehalten, mit Feierstunden und internen Round-table- Diskussionen, mit kulturellen Würdigungen, Fahnen, Trachten und Fak- keln, mit Volkstümsabeiiden und gesamtpolitischen Standortbestimmungen, kurzum: in alten und neuen Formen, als Fest der Stämme und als Meeting von Europäern. (Zu gleicher Zeit veranstalteten Weiter nördlich, in Deutschlands größtem Malerwinkel Dinkelsbühl, die Siebenbürger Sachsen ihr traditionelles Treffen.) Am Rande der Ereignisse florierte der ambulante Handel mit Sonderstempeln und Karlsbader Oblaten.

Das Straßenbild gemahnte an die Salzburger Festspiele, auf einen einheimischen Passanten kamen sechs bis sieben fremde Gäste, auch auf den Parkplätzen war das Stuttgarter „S“ der Nummerntafeln kraß in der Minderzahl, und die schöne große Gartenanlage zwischen dem königlichen Schloß und dem Staatstheater wurde in der Abendsonne plötzlich zum Corso von Brünn, Troppau oder Reichenberg.

„Daß es in einer weithin rational bestimmten und von individualistischem Streben dominierten Industrie- und Leistungsgesellschaft möglich ist, alljährlich Hunderttausende in bewußter Erinnerung an die alte Heimat, unter dem Heimatgedanken, zusammenkommen zu lassen, gehört für mich zu den erstaunlichsten Vorgängen unserer Zeit“, kommentierte der Kultusminister von Baden-Württemberg, Prof. Dr. Hahn, dieses Phänomen in seiner Rede bei' der Verleihung des Kulturpreises 1968 der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Prominenteste Preisträger früherer Jahre: Alfred Kubin und Harald Kreutzberg.

Unter den nunmehr gewürdigten sieben Schriftstellern, Künstlern und Volkstumspflegem befindet sich nur ein österreichischer Staatsbürger, nämlich der in Graz lebende Maler und Graphiker Fred Hartig.

Dieses Verhältnis ist symptomatisch für die allgemeine zahlenmäßige Aufteilung der sudetendeutschen Volksgruppe nach der Austreibung. In der Bundesrepublik haben sich rund 2 Millionen angesiedelt, etwa 150.000 kamen nach Österreich, doch 800.000 führte die Deportation zwangsläufig in jene Gebiete, wo sie zu Untertanen von Grotewohl und Ulbricht wurden.

Dachorganisation, Zusammenschluß in der volksdeutschen Diaspora und auch ideelles Bindeglied, Verklammeruhg der Generationen von Angestammten und in der neuen Umwelt Nachgeborenen, ist die Sudetendeutsche Landsmannschaft, die aktiv rund 1 Million bundesdeutscher Bürger aus Böhmen, Mähren und Schlesien umfaßt. „Altösterreicher mit Bonner Pässen“, wie es ein weißhaariger Besucher nannte. „Als junger Mensch war ich Einjährig-Freiwilliger in Eger, auf meine alten Tage wurde ich Hamburger ,Neohanseate‘.“

„Wir sind keine Vereinigung im üblichen Sinn“, betonen Vertreter der „SL“. Ganz bewußt erfolgte der Aufbau nach dem Vorbild staatlicher Hierarchien, mit der Bundesversammlung als oberstem Gremium, dem Sprecher und dem Bundesvorstand. Die Schirmherrschaft hatte von Anfang an die bayrische Regierung übernommen.

Gewissen Kreisen wird schwarz vor den Augen oder sie sehen rot,

wenn sie die traditionellen Farben der Sudetendeutschen, Schwarz-Rot, erblicken. Aber die „SL“ ist weder ein Staat im Staate, noch ein Stoßtrupp rechtsextremer Racheengel oder „völkischer“ Krakehler, ebensowenig eine „Exilregierung“. Deutlich und nicht zu ignorieren traten bei der Tagung die Generalthemen in den Vordergrund: Verständigung, Gewaltlosigkeit, Partnerschaft auf der Basis der Gleichberechtigung und des Europagedankens. Unter den Ehrengästen der Veranstaltungen sah man den regierenden Fürsten Franz Josef II. von und zu Liechtenstein, dessen Titel „Herzog von Troppau und Jägemdorf“ auf die alte Beziehung seines Geschlechtes zum mährisch-schlesischen Raum hinweist, und Dr. Otto Habsburg als führenden Kopf der Europaunion.

Den entscheidenden Tenor der Bestrebungen nahm auch der Bonner Vertriebenenminister Kai-Uwe von Hassel auf. Beim Festakt in der riesigen, Holzmeisters Großem Festspielhaus ähnlichen, Stuttgarter Liederhalle erklärte er: „Das langfristige Ziel unserer Politik ist die Schaffung einer europäischen Friedensordnung, in der Nationalstaatsgrenzen und Nationalitätsgrenzen nicht mehr jene Bedeutung haben, wie in den vergangenen Jahrzehnten. Im Rahmen dieser europäischen Politik bemühen wir uns um Aussöhnung und Versöhnung. Ohne die deutsch-französische Aussöhnung wären die westlichen Allianzen nicht denkbar gewesen. Ohne die Aussöh nung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands, insbesondere Polen und der Tschechoslowakei, wird die europäische Friedensordnung nicht geschaffen werden können.“

Die historische Betrachtung Böhmens als einer abendländischen Schicksalslandschaft, geistig einbezogen in neue gemeinsame zukunftsweisende Zusammenhänge, bestimmte auch die Stiftung des Karls- Preises „in Erinnerung an Karl IV., Römischer Kaiser, Deutscher König und König von Böhmen“. Dies ist gewissermaßen der Friedensnobelpreis, den die Südetendeutsche Landsmannschaft zu vergeben hat.

In diesem Jahr erfolgte die Verleihung posthum an zwei Männer, deren Lebensgang symbolisch für den Weg des Sudetendeutschtums durch die 1. Hälfte des Jahrhunderts war und die ganze innere und äußere Problematik widerspiegelt:

• an Wenzel Jaksch, Sozialist, Karl- Renner-Schüler, 1938 bei der Besetzung des Sudetenlandes als Gegner Hitlers verfolgt und nach England emigriert. Gestorben 1966;

• an Hans-Christoph Seebohm, Nationalliberaler, Anhänger von Coudenhove-Kalergis Paneuropa- Bewegung, nach 1945 CDU-Politiker und Verkehrsminister der Bundesrepublik. Gestorben 1967.

Aus den geschichtlichen Wurzeln des politischen Lebens im Sudetenland sind auch die drei weltanschaulich orientierten Gruppen zu verstehen, die sich im Rahmen der SL neu zusammenfanden:

• die Ackermann-Gemeinde (christlich-demokratisch) ;

• der Witiko-Bund (national);

• die Seliger-Gemeinde (sozialdemokratisch).

„Na zdravi“ (zur Gesundheit) sagte mein Tischnachbar beim Festessen im Stuttgarter Ratskeller und trank seinem Gegenüber zu. „Na vąše zdravi“, erwiderte der Angesprochene, ein Sudetendeutscher.

Dann entspann sich eine Plauderei. Auf tschechisch. Denn an der Tagung nahmen, als willkommene Gäste, zahlreiche Exiltschechen und -Slowaken teil. In früheren Jahren kam aus London öfter General Prchala, ehemals Kommandeur der tschechoslowakischen Armee in England.

Im gleichen Geist der Verständig gung zwischen den „vom Schicksal bestimmten Nachbarn“ war auch die Grußbotschaft an das tschechische und das slowakische Volk gehalten. Darin heißt es, auf die Ereignisse der letzten Monate bezogen: „Wir verfolgen mit starker innerer Anteilnahme Eure Bemühungen um Freiheit, Demokratie, nationale Unabhängigkeit und um die Verwirklichung der Menschenwürde.“

Kein Thing von Revanchisten, alten und Neo-Nazis war die Hauptkundgebung auf dem Killesberg, dem Erholungszentrum und Messegelände Stuttgarts. Mochte auch die Kleidung der sudetendeutschen Jugend an die heute antiquiert wirkende Aufmachung der hündischen Jugend der zwanziger und dreißiger Jahre erinnern — das ist alte Folie, reif zum Abstreifen. Um so aktueller waren die Prinzipien, die der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, der CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Walter Becher auf der Festwiese der vielen Tausend formulierte. Lautsprecher trugen seine Worte weit über die Wipfel, bis zu den sonntäglichen Sesselliftfahrern und den Ausstellungshallen.

An die Adresse der Dutschkes gerichtet: „Wir haben kein Verständnis für eine Revolution aus der Retorte, für einen Aufstand aus gefüllten Taschen. Wir wissen, was es heißt, mit allem zu Bruch zu gehen, was das Lėbėn lebenswert macht.“ Und als Grundriß eines universalpolitischen Weltbildes: „Wir fühlen uns heute, das will ich hier doppelt und dreifach unterstreichen, als Künder wahrer Modernität, wenn wir in der Partnerschaft freier Völker und Volksgruppen schlechthin das Ziel einer europäischen Lösung von morgen erblicken. Nicht wir sind die ewig Gestrigen. Nicht wir sind reaktionär. Jene verfallen erneut in den Geist des 19. Jahrhunderts, die an die Stelle der Partnerschaft zentralistische Machtblöcke setzen.“

Oder, um es mit einer Metapher zu sagen, die im Verlauf einer Diskussion geprägt wurde: „Es geht heute, wie so oft darum, daß vom böhmischen Herzraum Europas die Uhr der europäischen Geschichte für 100 Jahre richtig gestellt wird.“

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