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Keine Einstiege für die Jungen

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Zehn Konzerte, ein Computer-Musikseminar, ein optisch-akustisches Spektakel, Diskussionsrunden mit international bekannten Komponisten, Interpreten und Kritikern, prominente Dirigenten für neue Musik, wie Diego Masson, Bruno Maderna, Daniele Paris, Vinko G1 o b o k a r : das war die äußere Bilanz des 33. Internationalen Festivals zeitgenössischer Musik in Venedig, in dessen Rahmen man neun Ur- und vierzehn Erstaufführungen erlebte. Darunter etliche der Avantgardestars, wie Boulez, Stockhausen, Mauricio Kagel, Morton Feldman, Jannis Xenakis, Sylvano Bussott 1, John Cage. Freilich: Proteste gegen geschäftstüchtige Komponisten und die etablierte Gesellschaft, Provoattacken gegen Festivalmanager, Buh- und Pfeifkonzerte heizten bei den vergangenen Festivals die Atmosphäre stets kräftig an. Man war gewohnt, oft bis zuletzt nicht zu wissen, ob Irgendeine der angekündigten Sensationen überhaupt stattfände. Nicht so diesmal, wo alles von Anfang an gesichert war.

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Zehn Konzerte, ein Computer-Musikseminar, ein optisch-akustisches Spektakel, Diskussionsrunden mit international bekannten Komponisten, Interpreten und Kritikern, prominente Dirigenten für neue Musik, wie Diego Masson, Bruno Maderna, Daniele Paris, Vinko G1 o b o k a r : das war die äußere Bilanz des 33. Internationalen Festivals zeitgenössischer Musik in Venedig, in dessen Rahmen man neun Ur- und vierzehn Erstaufführungen erlebte. Darunter etliche der Avantgardestars, wie Boulez, Stockhausen, Mauricio Kagel, Morton Feldman, Jannis Xenakis, Sylvano Bussott 1, John Cage. Freilich: Proteste gegen geschäftstüchtige Komponisten und die etablierte Gesellschaft, Provoattacken gegen Festivalmanager, Buh- und Pfeifkonzerte heizten bei den vergangenen Festivals die Atmosphäre stets kräftig an. Man war gewohnt, oft bis zuletzt nicht zu wissen, ob Irgendeine der angekündigten Sensationen überhaupt stattfände. Nicht so diesmal, wo alles von Anfang an gesichert war.

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Schon beim Start des Festivals im Teatro „La Fenice“ blieben offizielle, ja sogar internationale Adabeis fern. Auf Superempfänge, Gala und Eröffnungsreden hatte man bereits anläßlich der Eröffnung der Kunstbiennale verzichtet. Um Arbeiter nicht zu weiteren Aufmärschen und Streiks herauszufordern. Und auch zur Eröffnung des Musik-fests wurde dieser Grundsatz befolgt. Daß allerdings just das Eröff-nungskonzert, eine betont Improvisierte Soiree der bekannten Nuova Consonanza Rom unter Diego Masson, mit der pompösen historischen Regatta auf dem Canale Grande zusammenfiel, wirkte wie ein böser Scherz.

Daß unter solchen Umständen gegen nichts protestiert wurde, setzte niemand in Verwunderung. Vielmehr verwunderte, daß Venedigs Festival allmählich eine Umorientierung mitmacht, mit der niemand gerechnet hat. Jahrelang hat die Biennaleleitung das Musdkfest als Vorposten zeitgenössischer Experimente verteidigt. Frontalangriffe kommunistischer Gesellschaftsverbesserer vom Dienst, die im Vorjahr etwa selbst Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel und ihren berühmten, inzwischen nicht mehr bestehenden Ensembles „faschistische Kunstmanipulation“ vorwarfen und eine radikale Neugestaltung unter Mitwirkung des jugendlichen Publikums verlangten, wurden geschickt in öffentliche Diskussionen abgelenkt. Was 1969 jedenfalls mutig, ja revolutionär wirkte — das offene Gespräch mit Komponisten, die Diskussdon mit dem Publikum —, ist diesmal in den privaten Tratsch, zum Tauziehen um kleinste Vorteile, kurz: zu einer netten Gewohnheit ausgeartet. Man disputierte um der Kontaktnahme willen und stritt um Nebensächlichkeiten, ohne Rücksicht auf Verluste. Man veranstaltete mit dem Elektronischen Institut der Universität Pisa und internationalen Experten, wie Pietro Grossi, Computerseminare, in denen ein auf Sensationen gefaßtes Publikum durchs IBM-Center im luxuriösen Papadopoli-Palast irrte und das Haus bitter enttäuscht und verwirrt verließ. Grossi hatte Ravels „Bolero“ aus „künstlichen Tönen“ fabriziert, mit der freundlichen Regie anweisung „Wir machen mit technisch äußerst komplizierten Verfahren etwas ganz Einfaches“ um Verständnis werbend. Mancher fühlte sich ob der traurigen Ergebnisse — Ravel nachkomponieren mit der Schreibmaschine! — gefoppt... Die Konzerte selbst ließen das Experimentelle, die Nicht-Arrivierten vermissen, wenn man von den Uraufführungen von Castaldi und Clementi absieht. Es ist natürlich verdienstvoll, Werke internationaler Komponistenprominenz, wie Pierre Boulez („Eclat“, 1. Sonate), Stockhausen („Stop“, „Punkte“, „Adieu“), György Ligeti („Lontano“), Kagel („Heterophonie V/1“, „X“), Jannis Xenakis („Atrees“), Sylvano BussotH (Klavierwerke), aufzuführen — damit die RAI (Radiotelevisione Italiana) sie gleich mitproduzieren kann — und mit Haupt- und Nebenwerken der Altmeister, wie Schönberg (Violinkonzert), Strawinsky („Ragtime“), Varese („Offrandes“, „Noc-turnal“), William Walton („Facade“), Alban Berg (Kammerkonzert), Webern (Lieder, op. 13), zu garnieren. Ob dies aber im Sinn des Millionenunternehmens ist, die Akzente vom Experiment weg und immer mehr dem bloß Erfolgreichen zuzuschieben, all denen, die gerade auf den internationalen Komponistenbörsen, den Rundfunkanstalten und bei ein paar Musikverlagen Höchstpreise notieren und vor Aufträgen bald keinen Termin mehr einhalten können?

Venedigs Musikfest bot bisher für viele Junge eine Ein- und Aufstiegsmöglichkeit ins internationale Auftragsgeschäft. Entdeckungen und Überraschungen waren garantiert. Das hat vorläufig aufgehört. Man kann nur hoffen, daß die Veranstalter beim 34. Festival klarer sehen, wieviel es für die Zukunft mehr wiegt, kühne Experimente zu wagen, als sich im Glanz von ein paar Namen zu sonnen, die man für viel (oft zuviel) Geld eingekauft hat. Außerhalb der Konzertreihe mit der Nuova Consonanza, dem Orchester des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart, der London Sinfonietta und der Zagreber Philharmonie interessierte vor allem Morio Bertoncinis „Raum-Zeit“-Spektakel, das der Komponist mit Tänzern, Instrumentalisten und Projektoren im Zentralpavillon des Biennale-Geländes aufführte. Allerdings fühlte man sich da mehr in eine Eurythmiestunde versetzt denn in ein Avantgardespiel: Damen und Herren in wallenden Gewändern, mit mystisch verklärtem Blick, wehten durch den Raum, benützten Dutzende hängender Stäbe als Harfensaiten. Sie schienen aus einem provinziellen Art-Nouveau-Gemälde ausgebrochen. Und Musiker rumorten dazu. Mag das Spiel selbst unbefriedigend ausgefallen sein, es zeigte dennoch, was auf diesem Sektor geschehen könnte und müßte. Vor allem, daß das Publikum im Mitspiel aktiviert werden sollte. Daß dazu aber ein vernünftiges Konzept gehört, ist selbstverständlich. Denn sonst wiederholt sich das gleiche

Schauspiel wie bei Bertoncini: Das Publikum, das mitspielen sollte, gähnte dem zur Aktion auffordernden Komponisten recht unhöflich ins Gesicht und floh scharenweise in die elysischen Gefilde der Giardini-Bar und ins „Panadiso“.

Etwas mehr Glück hatten die Veranstalter mit einem Tanzabend des erst vor kurzem gegründeten London Contemporary Dance Theatre (gemeinsam mit den Pierrot Players unter Peter Maxwell Davies). Immerhin bescherte die recht gut trainierte Truppe, durchwegs Martha-Graham-Schüler unter dem Leiter Robert Cohan, zwei Stunden mit unkonventionellen Nummern. Biblische Turnstunden mit Engel und Jakob erlebte man zu Musik von Maderna: Caltcher-Szenen rund um und auf einer Leiter (Choreographie: Cohan). Tänzergeplänkel Im Trainingsstudio sah man zu Kagels rasselndem „X“, amüsante Neger-leinauszählspiele zu US-Folklore in den „Drei Epitaphen“ (Choreographie: Paul Taylor, Kostüme: Robert Rauschenberg): eine flotte Sex-Show mit viel Hüftengewackel und Beingeschlenker. Wenig ergiebig waren Peter Maxwell Davies' „Vesaiii Icones“, 14 Passionsstationen Christi nach Anatomiestudien des 16. Jahrhunderts. Fast eine Dreiviertelstunde lang kriecht und torkelt ein schicker Neger (der Choreograph William Louther) um eine Cellistin, ohne daß Erwähnenswertes passierte. Auch musikalisch nicht Kurz: Auch auf dem Tanzsektor, der in Venedigs Festival längst seinen festen Platz und seine Tradition hat, werden sich die Manager fürs nächste Jahr wieder Glanzlichter einfallen lassen müssen.

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