6685647-1962_15_09.jpg
Digital In Arbeit

Künstler und Gesellschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn sich nun der moderne Künstler derart mit seiner Gesellschaft und der technisch-naturwissenschaftlichindustriellen Kultur identifiziert, bleibt zu klären, warum seine „Überwelt“ eine der Wirklichkeit inkon-

gruente Schöpfung bilden kann — wenigstens in deren höheren Ausformungen und für einen entscheidenden Teil des Publikums, das sich der Situation, der es verhaftet ist, vielfach freilich nicht bewußt ist. Ferner wäre zu untersuchen, wie viele der maßgebenden unter den zeitgenössischen Künstlern einer Umwelt entstammen, deren Angehörige ihnen auf ihrem Weg am allerwenigsten zu folgen vermögen. Georges Braque, Juan Gris, Robert Delaunay, Alberto Giacometti und Gustave Singier zum Beispiel begannen als Dekorationsmaler oder Kunstgewerbler (was übrigens die Tatsache erhellen kann, daß ein großer Teil moderner Kunst ausschließlich dekorativen Charakter hat), Gauguin war Matrose und Kaufmann, Vlaminck Radrennfahrer, Kan-dinsky, Mathieu und Guttuso waren Juristen, Vedova Arbeiter und Partisan, Jean Fautrier Hotelier und Skilehrer. Eine Reihe der wichtigsten Maler begann als Autodidakt: Soulages, Mark Tobey, Max Ernst, Jean Degottex — um wiederum einige der verschiedenartigsten zu nennen —, und der deutsche Expressionismus zumal der „Brücke“-Künstler war zu einem entscheidenden Teil eine proletarische Bewegung.

Daraus folgt, daß der Prototyp des modernen Künstlers vielfach nicht gerade den höheren Gesellschaftsschichten eines Volks entstammt, von deren geistigen Ausformungen oder esoterischen Kreisen er später allerdings zehrt (Gehlen spricht von der quasi-aristokratischen Rolle, die der Kunstkenner heute einnehme), und daß er künstlerische Aussageformen erreicht, die von den Massen nicht mehr verstanden werden, denn — eine weitere Beobachtung Gehlens —, je sozialistischer die Gesellschaft sich ausformt, desto entscheidender behält sie die überlieferten Hauptrichtungen künstlerischer Aussageformen bei. So hängt der Künstler zwar wie nie zu-

vor von den Denkfiguren und Verhaltensweisen der industriegesell-schaftlichen Mentalität ab, erarbeitet sich aber doch, wie Malraux bemerkt, schon seit der Romantik zusammen mit dem Dichter und Musiker eine gemeinsame Welt, in ■ der alle Dinge wohl miteinander aber nicht “mit der Welt der anderen in Beziehung stehen. Daß. es Sich hier wieder mehr um künstlerische Manifestationen des „innengeleiteten“ Menschen handelt, liegt auf der Hand.

Die Künste würden heute im übrigen wahrscheinlich einem langsamen Tod entgegensehen, hätten sie nicht gleichzeitig an Stelle öffentlicher Aufträge und öffentlichen Interesses auch eine Marktbezogenheit erreicht, der sie allein zu verdanken scheinen, daß sie am Leben blieben. Kunst ist heute von Werbeträgern abhängig: Von Museumsleitern, Kunstschriftstellern und nicht zuletzt von dem Diktat des Begriffes „marktgängige Ware“, die sich der gerade vorherrschenden Mode unterzuordnen hat. In dieser Hinsicht bahnt sich eine Entwicklung an, die James Guitet recht zu geben scheint, der die Meinung äußerte, daß der Begriff der Individualität des Künstlers (die er im Gegensatz zu C. G. Jung immerhin als gegeben annimmt) immer mehr verschwinden wird. Wie bindungslos die zeitgenössische Kunst geworden ist, geht auch aus der Richtung des Surrealismus hervor, deren Angehörige die Rettung der Kunst, die sie nach Andre Breton im Grund verneinen und nur als Vehikel einer irrationalen Erkenntnis gelten lassen, vom Untertauchen ins Unbewußte, ins Vorvernünftige und Chaotische erwarten und die sie als psychoanalytische Methode der freien Assoziation verwenden.

Die moderne Totalitätsmanie, die auch im Roman oder der Lyrik beobachtet werden kann, ist im Surrealismus besonders ausgeprägt: Miteinander Unvereinbares wird auf eine schockierende und phantastische Art zusammengestellt und dem Wunsch unterworfen, in die atomisierte Welt auf eine sehr paradoxe Art Einheit und Zusammenhang zu bringen. Ähnlichen Prinzipien huldigt auch der Automatismus neuerer Richtungen. Der Schock, dem die Gesellschaft hier ausgesetzt wird, ist aber wiederum etwas, was sie erwartet: Sie will nicht mehr ergriffen, zum Denken veranlaßt werden — sie will keinen Problemen gegenübergestellt und beunruhigt, sondern nur an einem genau umgrenzten Punkt, an erwarteter Stelle, befremdet werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung