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Kunst im Polizeistaat
In den Heften der vom Münchener Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München herausgegebenen „Kunstchronik“ (Verlag Hans Cart, Nürnberg) ist kürzlich zum erstenmal eine ausführliche Bilanz der Verluste erschienen, die 1938 im Bildersturm der damaligen deutschen Machthaber angerichtet worden sind. Unter dem Titel „Entartete Kunst“ verschwand damals fast aus allen deutschen Museen nahezu der gesamte Bestand an moderner Kunst. So wurden dem Landesmuseum in Hannover rund 270 Werke deutscher und ausländischer Künstler entführt. Die Moderne Galerie in München-Gladbach verlor etwa hundert Werke, unter anderem von H. Nauen, Rohlfs, vor allem aber aus dem Kreise der „Brücke“ und des Bauhauses. Das städtische Museum in Hagen verzeichnet eine Einbuße von über 400, zum Teil bedeutenden Werken. Unter den aus dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum als „entartet" entfernten Bildern befanden ich Kokoschkas „Dent du Midi“, Picassos „Familie Soler“, zwei Bilder von Edvard Munch, „Die drei Lebensalter“ und „Fratf am Meer“, Gauguins „Reiter am Strand“ und Derain’s „Blick auf Vers“.
Der „Säuberung“ fielen etwa 120 Kunstwerke der städtischen Kunstsammlungen in Nürnberg zum Opfer, darunter ein Messingguß von Ernst Barlach und die „Anita Berber“ von Otto Dix. In München wurden 98 Gemälde als „entartet“ abgehängt, darunter Werke von Vincent van Gogh, Edvard Munch, Max Liebermann, Oskar Kokoschka, Lovis Corinth, Max Beckmann, Nolde, Rohlfs, Schmidt-Rottluff, Heckel, Hofer, Kanoldt und Purrmann. Von der Sammlung der „Modernen“ des Halleschen Moritzburg-Museums, das bis zum Jahre 1938 Bilder von Kokoschka, Paul Klee, Lionel Feininger, Schmidt-Rottluff und andere beherbergte, ist nichts mehr vorhanden. Seltsamerweise blieben hier die Hauptwerke Edvard Munchs unangetastet. Die Kunst des 20. Jahrhunderts einschließlich der Werke der Künstler H. Nauen und Campendohk verfielen in Krefeld ausnahmslos den Zensoren. Dasselbe Schicksal widerfuhr der württembergischen Staatsgalerie in Stuttgart, die ihre gesamten Bestände in modernen Gemälden, Plastiken, Zeichnungen und Druckgraphik Vermißt. Nicht anders erging es den reichen Beständen an Malerei im Folkwang-Museum in Essen und den Kunstsammlungen in Hamburg, Dortmund und Ulm. Manchenorts wurde das kunstgeschichtliche Gesamtbild fast völlig ausgelöscht. Wie der entstandene große museale Verlust zu beurteilen ist, bildet keine Frage des Stilgeschmacks, des Gefallens oder Nichtgefallens, sondern vielmehr die andere, ob Kunst und geistiges Leben polizeilich zu reglementieren sind oder nicht. Aber das System, das erklärte: Recht ist, was dem Volke nützt, dekretierte eben auch: Kunst ist das, was ich bestimme! So wird schließlich der ganze Staat ein einziges Gefangenenhaus. Auf die überstandene jüngste Vergangenheit antwortet, wie die Künstreferenten melden, das heutige Deutschland in fröhlicher Reaktion: in allen Kunstausstellungen ist moderne .Kunst dernier cri.
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