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„Lasset uns nach Bethlehem gehen!“

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Als Paul VI. in der Aula von St. Peter vor dem versammelten Konzil überraschend seinen Beschluß bekanntgab, eine Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Christentums zu unternehmen, waren sich die Väter des Konzils sofort des außerordentlichen Charakters dieses Entschlusses bewußt. Paul VI. ist — so verblüffend, ja befremdlich es klingt — der erste Papst der kirchlichen Geschichte, der einen solchen Akt setzt. Simon Petrus ging nicht nach Jerusalem, sondern kam aus der Urgemeinde dieser Stadt nach Rom, und Gregor X., damals Archidiakon von Lüttich und weder Priester noch Kardinal, befand sich auf Kreuzzugsfahrt in Palästina, als er 1271 von den in Viterbo versammelten Kardinälen zum Papst gewählt wurde.

Ein symbolischer Akt: Der Papst wallfahrtet nicht nach Lourdes oder Fatima, sondern nach Palästina, in die Heimat Jesu. Es fehlt ihm gewiß nicht an Reverenz vor der Mutter Christi und dem Glaubensgeist, der sich an diesen traditionell gewordenen Wallfahrten entfaltet, aber er weiß offenbar, daß die marianische Frömmigkeit nur ein sekundäres, begleitendes Phänomen sein darf; denn einer ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, und um des einen willen ist Maria begnadet worden. Palästina ist der Ort der Fleischwerdung des göttlichen Logos. Das Christentum ist an eine geschichtliche Person und deren geschichtliches Schicksal geknüpft: an das Leben des Jesus von Nazareth; deshalb ist es kein Mythos und kein theosophisches System. Alle Dogmatik, alle Verkündigung, ist nur Interpretation dieser historischen Gottestat, die sich in Jesus ereignet hat, und speist sich immer wieder neu von diesen Anfängen.

Geburt, Tod und Auferstehung des Christus haben sich in diesem Land Palästina zugetragen, und an diesen elementaren Fakten richtet sich der Glaube der Christen aus. In Jerusalem entstand unter dem Feuer und Sturm des Pfmgstgeistes die Urgemeinde der Christenheit, die Kirche. Der Glaube dieser Kirche und der von i gegründeten ersten Kirchen Ist orm alles Glaubens in der Kirche, auch heute noch für dieses in Rom versammelte ökumenische Konzil, die Offenbarung, von der es zehrt und der es sich im Glaubensgehorsam imsjier aufs neue unterwirft, ist ja die Offenbarung des erhöhten Jesus durch Seinen Geist an die ersten Gemeinden; auch die Schrift selbst ist ein Produkt des Glaubens dieser Gemeinden und der in ihr bewahrten Tradition über Leben, Taten und Worte des Jesus von Nazareth, in dem die Gemeinde ihren Christus und den Herrn und Retter der Welt erkannt hat. Der Regreß der römischen Kirche auf Jerusalem ist aber auch die ständig sprudelnde Quelle, ist ihre Wiedererneuerung. Die Kirche ist ein geschichtliches Gebilde und wandelt sich in der Zeit, aber sie geht in der Zeit immer wieder neue Symbiosen mit der jeweiligen Gesellschaft und ihrer temporären Mentalität ein und läuft ständig Gefahr, sich in ihren eigenen zeitbedingten, akzidentellen Formen zu verfestigen und so ihre Mobilität einzubüßen. Der Rückgriff auf die Urkirche ist deshalb kein Romantizismus, kein Archaismus, sondern jener „revolutionäre“ Akt, in dem sich die Gemeinde Gottes von ihren Quellen her erneuert. Johannes XXIII. wallfahrtete nach Assisi, zum Grab jenes Mannes, der als erster wieder das Evangelium wörtlich nahm und Jesu Leben in einer die Kirche erschütternden Weise imitierte. Johannes war selbst ein „Armer im Geiste“ und hat mit dem Geist des Armen von Assisi der Kirche ein anderes Gesicht gegeben. Papst Paul geht denselben Weg mit erhöhter Konsequenz zum Leben Jesu selbst, das sich in Palästina abgespielt hat und das zuallererst im Glauben Seiner Jünger Interpretation und Realisation in Nachfolge fand.

Die Stallhöhle von Bethlehem war der Ort der Entäußerung des „in der Gestalt Gottes“ wesenden Logos, der Hügel Golgotha die konsequente Vollendung dieser „Ausgießung“ der Gottheit. Der Sohn ist in „Sklavengestalt“ erschienen, nicht in Herrlichkeitsgestalt. Wenn Paul VI. nach Bethlehem und Golgotha geht, „ganz demütig“, wie er vor den Vätern sagte, bekennt er sich damit zur Kirche der Entäußerung des Gekreuzigten und des Säuglings im finsteren Stall, der nicht vom Judenkönig Herodes noch von strahlenden Engelserscheinungen besucht wurde, sondern einzig und allein von den zerlumpten Schafhirten der Kleinstadt Bethlehem. Von dort ging der Menschensohn aus, „der nichts hatte, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte“, der „Zimmermannssohn“ und Wanderrabbi, der „Apostel“ des Vaters, der von sich sagte: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und Sein Leben hinzugeben als Lösegeld für die vielen.“ Die Kirche lebt zwar von der Kraft und dem Geist des erhöhten Jesus, vor dessen Herrennamen „sich jedes Knie beugen muß, der Himmlischen, der Irdischen und der Unterirdischen“, sie trägt aber diesen ihren Schatz der Verklärung in „tönernen Gefäßen“, es ist ein „verborgenes Wesen“, das erst bei der Erscheinung ihres Herrn „allen Menschen“ offenbar sein wird.

Der Papst geht nicht als Souverän nach Palästina (sowenig er offizielle Empfänge verhindern können wird), sondern als Repräsentant der Kirche in Diaspora und „Babylon“, der Gottesgemeinde als Diakonie an Gott und den Menschen, des Gottesvolkes auf Wanderschaft und

Pilgerschaft zum gelobten Land des Reiches Gottes. Gregor X. war Kreuzfahrer in Palästina, Exponent einer militanten Kirche, die sich als Reich Gottes auf Erden verstand. Paul VI. geht als Nachfahre der Kreuzzugspäpste in ein Land, das Juden und Arabern gehört, nicht den Christen, und niemand, der diesen gewaltlosen Pilger sieht, denkt mehr an politischen Anspruch und politische Aggression.

Der Papst wird Israel betreten, er wird damit keinen diplomatischen Akt setzen und in die schwebende Auseinandersetzung zwischen Israel und den arabischen Staaten nicht eingreifen; er wird auch keine gezielte Friedensmission in dieser Hinsicht verfolgen. Sowenig wie das Konzil einen politischen Akt setzen wollte, als es das theologische Schema über die Juden diskutierte (und wohl auch verabschieden wird), will Paul VI. keinen Konflikt mit dem Islam heraufbeschwören. Dennoch entmutigt der Papst mit dem Besuch dieses Territoriums jedweden „christlichen“ Antisemitismus. Die Juden sind keine „Gottesmörder“, die Sünden der Welt, der Juden wie der Nichtjuden, haben, metaphysisch betrachtet, Jesu Sühnetod provoziert und verursacht. Wenn eine fanatisierte Plebs von Pontius Pilatus die Kreuzigung Jesu verlangte, war es nicht das ganze damals lebende Judentum (das zu einem großen Teil bereits in der Diaspora lebte); wenn seine theologischen und priesterlichen Führer Jesus nicht als Messias anerkannten, kann das nicht allein der Verhärtung gegen die Wahrheit Gottes zugeschrieben werden, sondern muß das ebenso als irrendes Gewissen gebucht werden. Wenn es Juden waren, die vor Pilatus schrien: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, so kann diese Selbstverfluchung nicht bewirken, daß Israel ein verworfenes Volk ist.

Im Gegenteil, es bleibt im Pakt mit Gott und wird am Ende der Tage in Jesus von Nazareth seinen Christus erkennen.

Das Volk Israel ist für den Christen ehrwürdig und unverletzlich, weil Jesus, der Gott der Christen, von sich selbst gesagt hat, „das Heil kommt aus den Juden“, stammt er doch nach dem Zeugnis des Paulus „aus Davids Samen“. Die römische Kirche hat mit den orthodoxen Juden Thora und Propheten als Gottesoffenbarung im Glauben gemeinsam. Kirche und Israel sind untrennbare Realitäten, ist doch die Braut Christi Kirche aus Juden und Heiden, und das bis auf den heutigen Tag. Die Papstwallfahrt nach Israel ist, ohne die Mohammedaner, diese Bekenner des lebendigen Gottes, zu beleidigen, eine Verbeugung vor dem

Volke, aus dem der Herr „dem Fleische nach“ stammt, dessen Sprache die Urgemeinde beim „Brotbrechen“ redete, in dessen Sprache das erste Wort des „Wortes“ erklang und die christliche Verkündigung ihren Ausgang nahm. Die Papstwallfahrt ist ein Widerruf aller von Christen verübten Gewalttätigkeiten gegen die Juden, eine Bekundung der Solidarität des neuen Israel mit dem alten, ein demonstrativer Hinweis auf die Kontinuität des Gotteshandelns in der Geschichte unseres Heils, ein Anruf an den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, der mit dem „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ identisch ist.

Die Pilgerfahrt Pauls VI. ist aber auch ein Gestus der

Brüderlichkeit gegenüber den getrennten Christen, die in Palästina ihren Sitz haben und an der Betreuung der heiligen Stätten des Christentums maßgeblich beteiligt sind. Welche Begegnung zwischen Papst und orthodoxen Kirchenmännern stattfinden wird, kann noch niemand sagen. Jedenfalls: die Christen treffen einander an der Stelle der Futterkrippe, die das Heil der Welt barg, an der Stelle des erlösenden Kreuzestodes, sie sind eins im Glauben an den auferstandenen Herrn zur Rechten des Vaters. Dieser Glaube muß, entgegen allen historischen und psychischen Hemmungen, allen Vorurteilen und Differenzierungen, letztlich die endgültige Einheit bewirken. Der Papst geht hin, er tut den ersten Schritt, er ließ sich nicht dazu bitten, er wartet nicht, bis er aufgesucht wird. Der Papst hat sich gegenüber dem Ausspruch des „ökumenischen“ Patriarchen von Konstantinopel auch als „servus servorum Dei“ bezeichnet, ein Papst hat in Johannes die Hand nach den Brüdern ausgestreckt, der Papst tut physisch, symbolisch den ersten Schritt zur Begegnung. Der Papst wird in Palästina Epiphanie feiern (am selben Tag wie die Orthodoxen), das Fest des Christus, der in Seiner Erscheinung das All wieder unter einem Haupt zusammengefaßt hat, das Fest des absoluten Friedens, des Anbruches der neuen Erde, des „Gott alles in allen“, das Fest der Heiden, die in den Magiern aus dem Osten kommen, um den im Fleisch erschienenen Gott anzubeten. Der Papst, Knecht und Werkzeug Gottes, tut den ersten Schritt zur Versöhnung der Christen, ja der Menschen weit, deren Sohn der Gottessohn in Bethlehem geworden ist.

Er, der Pilger- nach dem Stall der Geburt, ladet alle Getrennten, alle Entfremdeten und Verfeindeten zum Frieden ein: „Kommt, lasset uns nach Bethlehem gehen!“

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