6638850-1957_32_10.jpg
Digital In Arbeit

Leben aus dem Mysterium

Werbung
Werbung
Werbung

Wir wissen nicht sicher, wann Marc Chagall geboren wurde. Der 7. Juli 1887 ist eine mystische Zahl und muß nicht auf den Tag genau sein Geburtsdatum fixieren. Doch das Jahr, 1887, dürfte gesichert sein. Die häufige Angabe, Chagall sei 1889 geboren, kann heute widerlegt werden. Der alternde Maler, im Herzen jung geblieben, hat sie selbst einmal erfunden, hörten wir, um nach außenhin zwei Jahre jünger zu erscheinen — ein spontaner Einfall, eine kleine menschliche Schwäche eines großen Künstlers. So haben wir allen Grund, schon in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag zu feiern. Die folgenden Zeilen, geschrieben aus Anlaß der großen Chagall-Ausstellung in der Galerie Welz in Salzburg, mögen als kleiner Gruß nach Vence in der Provence gehen, wo der Maler heute lebt.

Die Wirklichkeit selbst ist das größte Mysterium. Die Wirklichkeit, das ist alles zusammen: Erlebtes und Geträumtes, die Welt Vor uns und die Welt der Erinnerung in uns.

Da steht ein Maler in seinem Pariser Atelier vor der Leinwand. Durch das Fenster schaut der Eiffelturm herein und die höhen Fassaden an den großen Boulevards, an der Wand stehen ein paar Zeichen in hebräischer Schrift, auf der Leinwand aber steht ein Bild, das die Chiffren der Kindheit trägt — das Bild, an dem dieser Maler sein Leben lang gemalt hat. Es sind die einfachen Dinge, die sich hier auf dem Bild versammelt haben: die Kuh, der Melkeimer und die Magd und die kleine Kirche mit Kreuz und Zwiebelturm, vertraut aus der alten Heimat, aus Rußland. Lieber der Leinwand, losgelöst von der Wirklichkeit dieses Raumes, aber nicht weniger wirklich als die Dinge im Raum, schwebt auf Wolken ein Dorf mit seiner Dorfkirche. Nicht viel mehr als ein paar Dächer tauchen aus den Wolken auf. Ist’s ein Bild der Erinnerung? Ein Bild der verlorenen Heimat? Oder ist’s das himmlische Jerusalem, das da auftaucht? Oder ist es alles zusammen, ein Bild der ganzen unteilbaren Wirklichkeit, mit Tag, Traum und Legende, die das Werk dieses Malers unaufhörlich nährt, im tatsächlichen und im mystischen Sinne?

So hat Chagall” sich selbst gesehen, als 1912/13 dieses „Selbstporträt mit sieben Fingern” entstand. Er malte es in Paris, aber in Gedanken war er in Witebsk, wo er in der engen Welt des Ghettos als Sohn sehr armer Eltern geboren wurde.

In allen seinen Bildern ist Marc Chagall auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Er findet diese verlorene Zeit - ebenso wie der große Franzose Marcel Proust — wieder in seinem Inneren, in der Erinnerung. Die Erinnerung ist die Instanz, in der sich die flüchtige äußere Zeit verwandelt in die Zeichen des Bleibenden: in Häuser und Blumensträuße, Bauern und Engel, Geige und Leuchter, Pferde und Wagen, und vor allem in Liebende. In der Erinnerung verdichtet sich die Wirklichkeit zur evokativen Chiffre: also zu etwas, dem die keimhafte Kraft innewohnt, jederzeit aus sich selbst neue Wirklichkeit hervorzurufen. In der Erinnerung kehrt die Zeit heim in die Ewigkeit. In der Erinnerung wird die Wirklichkeit zur vollen Wirklichkeit: zum Mysterium.

Zwei Tatsachen müssen wir bedenken, wenn wir die Kunst Chagalls tiefer verstehen wollen. Die erste bezieht sich auf die innere Entwicklung der modernen Kunst, die uns den Bereich archaisch-naiven Erlebens, die Welt mvthopöischen Denkens neu erschlossen hat. Dies war kein Weg zurück, kein bloßes „Zurück zur Natur” aus Zivilisationsmüdigkeit, sondern ein Weg zur Erlebnisfähigkeit der ganzen Wirklichkeit, mit Einschluß des Unterbewußten und Unbewußten. Zuerst kommt dies bei Paul Gauguin deutlich zum Ausdruck. Formal wird es vor allem in der Kunst des Kubismus (der wesentlichsten Stilrichtung unseres Jahrhunderts!) erkennbar, denn der Kubismus bricht zum ersten Male konsequent mit unserer nur begrifflichen Raum-, Zeit- und Kausalanschauung, um sie durch eine lebendige Weltanschauung zu ersetzen. Dinge, bislang im engen Feld unseres Bewußtseins durch die Grenzen von Raum, Zeit und Kausalität voneinander geschieden, werden in einem Bild, in einer Sicht darstellbar und treten gleichberechtigt nebeneinander. Die innere Wirklichkeit, die Wesenhaftigkeit hat über die äußere Wirklichkeit triumphiert.

Es ist kein Zufall, daß Marc Chagall gerade vom Kubismus beeinflußt wurde, daß er erst durch ihn die Mittel fand, die seiner inneren Welt wirksamen Ausdruck geben konnten. Freilich ging es Marc Chagall, der seinem Wesen nach immer ein naiver Maler geblieben ist, nicht um die Weiterentwicklung künstlerischer Aussagemöglichkeiten, sondern stets nur um seine persönliche Aussage, um die Darstellung und Definition der Gefühlsinhalte, die sein Herz bewegten.

Die Welt des Mythos ist eine archetypische Welt. Alles Geschehen ‘ in ihr ist beispielhaftes, vorbildliches Geschehen. Der archaische Mensch hat da? Bestreben — wie es zuletzt Mircea Eliadė rtrsefftem Buch „Die Religionen tind das Heilige”, erschienen im Otto-Müller- Verlag, Salzburg, herausgearbeitet hat — „Ewigkeit hienieden darzuleben”, das heißt: in Verbindung zu stehen mit dem Heiligen, im „Zentrum der Welt”, am „Nabel der Erde”, im „Reich der Mitte” zu leben, und allen Handlungen dadurch Gültigkeit, Dauer, Wirklichkeit im tieferen Sinn zu geben, daß sie anschließen an göttliche Handlungen, an geoffenbarte Zeichen. Gerade diese Züge des archaischen Menschen aber finden wir bei Marc Chagall. Er ist der Maler der einfachen und großen Ereignisse des menschlichen Lebens — Geburt, Hochzeit, Tod —, der einfachen, demütig lebenden Menschen und der einfachen und bleibenden Gegenstände. Er malt nicht nur die Gegenwart dieser Ereignisse, Menschen, Gegenstände, sondern stets auch ihre Verbindung zum Ewigen. Er ordnet sie neu in eine Welt, die höhere Realität — und damit längeren Bestand — hat als die Erscheinungswelt.

Dies führt zu dem anderen Punkt hinüber, der zum Verständnis der Welt Chagalls wichtig ist.

Es ist dies seine innige Beziehung zur jüdischen Mystik. Sehr früh lernte er sie durch den Chassidismus kennen, der die letzte staike Ausprägung jüdischer Mystik ist. Im Chassidismus erreichte sie ihre höchste Stufe, ihre innigste Gottnähe: „Gott wohnt, wo man ihn einläßt”. „Die Lehre der Chassidim , schreibt Martin Buber, „war die Blüte der Exilseele; sie verdarb aber auch am Exil.”

Nicht die Askese, sondern die zur Verzückung und Ekstase führende Freude ist der Weg zu Gott, lehrten die Chassidim. Durch šie sind wir in Gott geborgen. Vor allem die berauschende Musik — bei Chagall im Motiv der Geige immer aufs Neue in seine Bilder verwoben — ist Jęįlhal?ęn;an Gott.

Die jüdische Mystik ist der tiefste Ausdruck, den das, Gefühl des Heimwehs auf dieser Welt gefunden hat. Die Messias-Sehnsucht der Kabbala ist immer zugleich die Sehnsucht nach dem Heiligen Lande. Sie ist der Versuch, eine feste Heimat im Geiste zu begründen, weil eine andere Heimat auf der Welt nicht gegeben ist und das äußere Leben ein Leben der Verfolgung und Wanderschaft ist. Die jüdische Mystik ist der Versuch, nach Hause zu kommen, indem man Gott schaut: den einzigen festen Punkt, den man von jedem Fleck der Erde ebenso wahrnehmen kann wie von Israel aus, vom Heiligen Lande. So wie der Polarstern, der über dem Unendlichen Ozean aufgeht, für den Seemann das einzige Stück von zu Hause ist, das ihm blieb.

Eine solche Heimat, eine solche Geborgenheit wollte Chagall in allen seinen Bildern geben. Der häusliche Kreis um den Herd, die Umarmung zweier Liebender — das sind für den, der auf der Erde unterwegs sein muß, Inbilder des Zuhauses, der Geborgenheit.

Nicht nur in den frei, sondern auch in den nach einem Auftrag entstandenen Werken Chagalls, insbesondere in seinen Radierungen, ist das spürbar. Der Pariser Kunsthändler und Verleger Ambroise Vollard schlug Chagall vor, ein Buch mit Radierungen zu illustrieren. Chagall wählte „Die toten Seelen” von Gogol, zu denen er ab 1923 96 Radierungen schuf. Zwischen 1927 und 1930 illustrierte er die Fabeln von La Fontaine mit 100 Radierungen. 1931 reiste er nach Palästina und Syrien und nahm die Landschaft der Bibel in sich auf. In den folgenden Jahren schuf er den Zyklus von 105 Radierungen „Illustrationen zur Bibel”. Diese Werke sind erst nach dem Tode Vollards (1939) erschienen: die Radierungen zu den „Toten Seelen” 1949, die Blätter zu den Fabeln La Fontaines 1952, die „Illustrationen zur Bibel” 1956.

Alle diese Blätter kommen genau so aus dem Erleben wie die Gemälde Chagalls. Erleben, das ist Offensein, Bereitsein für die Vielfältigkeit der Welt, das ist Aneignen von Welt durch wirkliches, bewußtes Leben. Wer so lebt, dem ist auch die Welt vergangener Zeiten, sind auch leiblich nie erfahrene Dinge nicht verschlossen. Er ist empfänglich für die zartesten Schwingungen. Er findet in sich, im zunächst Unbewußten, auf dem Grunde der Seele, universale Erinnerungen, Menschheitserinnerungen, Erinnerungen an das vorzeiten Erlebte — die Erfahrungen der langen Geschlechterreihen vor ihm. Was Ahasver erlebte und erlitt auf seinen endlosen Wanderungen zwischen Madrid und Moskau, Bagdad und Budapest, das findet sich wieder in der Seele eines Nachgeborenen. Wenn er den Blick nach innen richtet, findet er dort die Fabelwelt La Fontaines und das Land der toten Seelen, kaum noch žu unterscheidet Von den Bildern, die aus der Spanne des eigenen Lebens geblieben sind — so, als hätte dieses Leben schon begonnen mit dem Leben der ältesten Vorväter. Und er findet in der Erinnerung die Welt der Bibel, die Geschichte vöm Ursprung des Menschen und alles Seienden, vom Ursprung, in dem auch unser aller Ziel beschlossen ist.

Zum Schluß noch einige Worte über die schöne Ausstellung, die Friedrich Welz in diesem Salzburger Festspielsommer zustande gebracht hat.

Sie zeigt zum erstenmal in Oesterreich alle Blätter seines Zyklus „Illustrationen zur Bibel”, vermehrt um Zustandsdrucke Vollards und um die 16 Farblithographien, die Chagall ergänzend zum Nachdruck der Bibelradierungen für eine Sonderausgabe der Zeitschrift „Verve” geschaffen hat. Daneben werden einzelne Radierungen aus seiner Autobiographie „Mein Leben”, den Tierfabeln von La Fontaine und aus „Die toten Seelen” gezeigt.

Das zweite Schwergewicht der Ausstellung liegt — neben dem in den Bildern zur Bibel — in den Bühnenentwürfen zum Ballett „Aleko” von Tschaikowsky, die Welz vom Museum of Modern Art in New York kommen ließ. Marc Chagall hat sie 1942 in Mexiko-City für ein Ensemble russischer Ballettänzer unter Leonid Massine geschaffen. Die Bühnenbilder und Kostümentwürfe Chagalls, mit vielen Anklängen an die russische Folklore, bestimmten nicht nur die Inszenierung, sondern weitgehend die Choreographie. Der Maler der Schwerelosigkeit, der schwebenden Figuren, bewies in seinen choreographischen Skizzen einen unerhörten Sinn für tänzerische Leichtigkeit und Bewegung.

Die Szenenhintergründe für die vier Akte des Balletts und die einzelnen Kostüme sind von so klassischer Schönheit und Farbkraft, daß sie einen Gedanken, einen Wunsch, eine Hoffnung fast zwingend herbeirufen: Marc Chagall möge eingeladen werden, einmal für eine Aufführung der Salzburger Festspiele — etwa für eine Mozart-Oper — die Bühnenentwürfe zu machen. Die Bühnenentwürfe Kokoschkas zur Zauberflöte waren ein künstlerisches Ereignis ersten Ranges. Eine Operninszenierung durch Marc Chagall aber wäre das Schönste, was sich für einen Salzburger Festspielsommer denken läßt. Die Welt hat keinen besseren Bühnenbildner, keinen innigeren und poetischeren Maler als ihn.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung