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Lebensraum aus der Wüsie

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Wie ein zur Abwehr bereites Horn streckt sich das marokkanische Bergland des Rif gegen Europa an der Straße von Gibraltar vor, als sollte es Sinnbild der zornigen Erhebungen sein, die seit dem Entstehen des französischen Protektorats, nur durch kurze Pausen unterbrochen, in Marokko aufflammten. Selbst Louis Liau- tey, der 1912 Marokko militärisch pazi- fierte und dann durch vierzehn Jahre als Generalresident in Fez als Straßenbauer und Volkwirt großen Stils das noch halb mittelalterliche Land der Ausnützung seiner Bodenschätze, der Ausbreitung der Baumkultur und dem Ackerbau erschloß, mußte noch nach der festen Begründung der Stellung Frankreichs in dem Lande jüngstverwichener Seeräuberei die Erhebung der kriegerischen Bergstämme der Kabylen unter Abd el Krim erleben. Dennoch hörte er nicht auf, dem französischen Volke und ganz Europa die Tragweite der zivilisatorischen Aufgaben in Afrika vor Augen zu stellen. Und er, der Begründer von 16 Städten, modernen Produktionsplätzen in Marokko, behielt gegen alle Kritiker und Zweifler recht. In seinen Spuren wandelte ein Menschenalter später der Aufbaumihister Raoul Dautry, der seinen Landsleuten vorhielt: „Europa vermag seinen früheren Wohlstand nur wiederzugewinnen, wenn es all seine materiellen und kulturellen Kräfte Afrika widmet."

In der Tat wurden in Afrika rasche Kraftreserven der Menschheit offenbar, die heute noch nicht voll ermessen, aber in ihrer ungeheuren Reichweite bereits erkennbar geworden sind. Frankreich, heute die drittgrößte Kolonialmacht der Erde neben England und Rußland, zählt in Afrika mit einem Bereich von 9.4 Millionen Quadratkilometer neun Zehntel seines gesamten Kolonialbesitzes, Land von der östlichen Mittelmeerküste bis zum Golf von Guinea, von der Senegalmündung bis nahe heran an das westliche Quellengebiet des Weißen Nil. Den größten Teil beanspruchen noch Sandwüsten, dennoch gewann Frankreich in Afrika Naturreichtümer, von denen die ersten kühnen Erforscher von Äquatotial- afrika und des französischen Sudan kaum geträumt haben. Sie erklären es, woher das Mutterland mit seiner 42-Mil- lionen-Bevölkerung, für sich allein keine volkreiche Macht, die materiellen Kraftzuschüsse erhielt, die es befähigten, die ungeheuren Opfer zweier Weltkriege zu ertragen.

Und noch ist kaum die Entwicklung zu berechnen, welche alle Teilhaber der Aufschließung Afrikas erwartet, wenn einmal die heute nicht mehr der bloßen Phantasie angehörenden Planungen für die Durchquerung der Sahara zur Ausführung gelangen: Schienenwege von Nord nach Süd: von Colomb-Bechar am Rand der Sahara unter dem Hohen Atlas, entlang der Wüstenstraße nach Goa am Niger. Und ihre korrespondierende, im rechten Winkel kreuzende West-Ost- Verbindung, die, von Dakar oder .dem malariafreien Hafen von Conakry in Französisch-Guinea ausgehend, auf strek- ketiweise schon vorhandenen Bahnen und guten Straßen dem Fort Lamy südlich des Tschadsees zustrebt, um von dort in den englisch-ägyptischen Sudan hinein nach El Obeid und Sennar am Blauen Nil und zum Anschluß an den bestehenden Schienenstrang nach Karthum geführt zu werden. Man braucht noch nicht an die Verwirklichung des in Paris seit zwei Jahren in Prüfung befindlichen gigantischen „Labonne-Plans" zu denken, der die in Tiefbohrungen in der Sahara festgestellten Wasseradern zur Befruchtung weiter Strecken der Wüste öffnen will; noch größere Bedeutung wird gegenwärtig in der internationalen Fachwelt dem Projekt des Professors Soergel zugemessen, der durch Wasserbauten am Zambesi und Kongo, Errichtung von Stauwerken und Kanälen in Mittel- und Ostafrika zwei große Binnenseen schaffen will, die der Befruchtung weiter Landstrecken ebenso wie einer Energiewirtschaft größten Ausmaßes und ihrer Nutzung in Agrikultur, Bergbau und Industrie dienen soll. Die Veränderungen, die sich innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte rapid fortschreitend in dem Wirtschafts- und Besiedelungsbiide großer afrikanischer Zonen vollzogen haben, ermutigen zu diesen Plänen, denn die schon erreichten Erfolge sind nicht selten märchenhaft. So konnten selbst die von Anton Zischka angeführten Ziffern, die in seinem aufschlußreichen vor nicht einmal einem Jahre erschienenen Werke , der Frucht einer emsigen, durch eigene Wahrnehmung unterstützten Material- sammiung, schon innerhalb kaum eines Jahres in einzelnen Angaben überholt werden, wenn er zum Beispiel von dem Emporwachsen von Casablanca spricht. Diese Hafenstadt an der marokkanischen Atlantikküste zählte vor vierzig Jahren noch eine Bevölkerung von 24.000 Menschen; für 1950 kann Zischka für Casablanca 700.000 angeben, und auch diese Zahl stimmt heute nicht mehr. Kenner der Situation berichten, daß mit Einschluß von 180.000 Einwohnern europäischer Herkunft 1953 bereits die Million voll geworden ist. Am Rande der Buschsavanne ist eine amerikanisch anmutende Stadt mit Wolkenkratzern, Warenhäusern, großen Parks und gepflegten Alleen emporgewachsen, wo am Eingang des Jahrhunderts nur eine primitive Schiffersiedlung mit einem Warenumschlag von etwa 10.000 Tonnen zu finden war. Der einstige Hafen, den Liautey mit vertausendfachter Kapazität ausbauen ließ, ist ein mit brausendem Leben erfülltes Emporium geworden. Woher dieser Auftrieb zum Gigantischen? Seit Beginn des Großhafenbaues sind in der Nähe und auf dem unwirtlichen Hochplateau von Abdoun auch starke Phosphat-, Eisen- und Bleivorkommen entdeckt und aufgeschlossen worden, darunter Phosphatflöze, die eine bisher noch nicht gekannte Gehaltsstärke von 77 Prozent besitzen. Zischka glaubt auf Grund der ihm verfügbaren Quellen, allein die Phosphatausfuhr Casablancas für 1952 mit vier Millionen Tonnen beziffern zu können.

Ebenso umwälzend für die Wirtschaft Nordafrikas ist die sich fast alle Vierteljahre erweiternde Auffindung von Kohlen-

1 „Afrika — Europas Gemeinschaftsaufgabe Nummer eins" von Anton Zi s c h k a. Verlag Leopold Stodcer, Graz - Wien. 356 Seiten.

lagern, die sich über 100 Kilometer entlang den Südabhängen des Hohen Atlas aus dem Raume von Ghorassa am Wüstensaume bis über Colomb-Bechar erstrecken. Nahe den Erzlagern von Figuig ist hier die Basis einer mit Riesenschnelle sich entfaltenden Schwerindustrie. Fabriken, Städte wachsen wie Pilze nach dem Regen aus dem dürren Boden. Zu gleicher Zeit hat sich nördlich, schon nahe der Mittelmeerküste, bei Oudjda im marokkanisch-algerischen Grenzgebiet ein zweiter Bergwerksdistrikt gebildet, in dem Anthrazit, Mangan, Blei und Wolfram aus mächtigen Vorratskammern der Natur gefördert wird.

Das sind nur einige Illustrationen zu dem Wandel, der sich ‘ in Afrika vollzieht; die Beispiele wiederholen sich in Libyen, wo die Italiener in den wenigen Jahrzehnten ihrer Herrschaft nach dem Urteil unparteiischer Zeugen Mustergültiges geleistet haben; unter anderem entriegelten sie drei- bis vierhundert Meter tief unter dem Wüstenboden liegende Höhlenwässer, errangen mit dem gewonnenen Wasser an der Schwelle der Sahara 374.000 Hektar neukultivierten Bodens und machten aus Libyen ein ansehnliches Exportland der Acker- und BaumkulturAls Exempel der dem Menschen von der Natur gebotenen Möglichkeiten wird von dem Autor von „Afrika“ angeführt: „Wo heute

Nairobi, die Hauptstadt Kenyas, liegt, gab es 1896 nur den Lagerschuppen des Sergeanten Ellis, des ersten und einzigen Weißen. Im Jahre 1900 war Nairobi ein Bahnarbeitercamp, 1950 aber die erste „City" des britischen Kolonialstaates Kenya, in der 15.000 Europäer, 65.000 Afrikaner und 40.000 Inder lebten."

Ähnliche frappante Schaubilder gibt es auch in Belgisch-Kongo, Transvaal und Oranje-Freistaat. Zischka sammelte eine Fülle von statistischen Nachweisen und Proben aus der Wirtschaft, um das Tempo des ökonomischen Aufstieges Afrikas und die für Europa vor der Tür liegenden, sich in vielen Varianten darbietenden bevölkerungspolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zu bezeichnen. Selbstverständlich sind mit diesen Aufgaben große und schwere Probleme verbunden, deren Bewältigung vielleicht ein völliges Umdenken der nächsten europäischen Generationen, ein Denken in großen Räumen, ein wahrhaft geeinigtes und wahrhaft weltpolitisch eingestelltes Europa voraussetzt. Ein Vorteil kommt dabei dem Europäer zustatten: das Mittelmeer bildet keine

Trennung zweier Erdteile, sondern heute noch mehr wie einst, da es das römische Weltreich begründen half, eine Brücke, die gegenseitige Ergänzung vermittelt.

Wird das geeinigte, organisierte Europa zustande kommen? Könnten etwa die Konflikte europäischer Mächte mit den arabischen Staaten in Nordafrika und nicht zuletzt im englisch-ägyptischen Sudan eine großzügige Lösung der verkehrspolitischen Kardinalaufgaben in Afrika verhindern, auch etwa weil der in Westafrika wirkende Expansionsdrang nordamerikanischer Wirtschaftsmächte die Prognose Stalins von der kritischen Rivalität der „kapitalistischen Staaten“ bestätigen würde? In seiner kürzlich auf dem Parteikongreß der Konservativen Partei in Scarborough gehaltenen Rede hat Winston Churchill — wieder der große Staatsmann — den rechten Weg gewiesen. Den verantwortlichen Planern für eine standhafte künftige europäische und weltpolitische Ordnung gibt es jetzt in kurzen Terminen viel und Großes zu tun.

Friedrich Funder

Vgl. „Italy’s Contribution to the development of Lybia". Septemberheft der römischen Zeitschrift „Italian Affairs .

Neue Ausstellungen

Wtirthle, Weihburggasse 9: .Paul Flora: Zeichnungen, Graphik; Gerhard Swoboda: Aquarelle, Graphik, Reliefs (Mo bis FT 9—18, Sa 9—-1-4, So geschl.),

Wolfrum, Augustinerstraße 10: .Gemäldeausstellung

Reny Lohner — Tempera und Aquarelle“ (Mo bis Sa 9—18, So 10-40.30).

Museum für angewandte Kunst, Stubenring 5: .Sammlungen, Sonderausstellung: Prunkgeräte der kaiserlichen Hoftafel“ (Mo geschl., Di bis Sa 9—16, So 9—13).

Art-Club, Kärntnerstraße 10: .Der Photograph Oka.- moto“ (10-19).

Neues Rathaus, Wiener Stadtbibliothek, Felderstraße lf 4. Stiege, 1. Stock: „Alfons Petzold (Bücher, Briefe, Vertonungen seiner Gedichte)“ (Mo bis Fr 9—18.30, Sa 9—12).

Museum für Volkskunde, Laudongasse 15: „Sonderausstellung: Sage, Märchen, Legende. Volkserzählforschung in Österreich in Geschichte und Gegenwart“ (Di bis So 9—12).

Technisches Museum: „Schausammlungen, Sonderschau: Maschinenschutz" (wochentags 10—10, 14—16, So 9—13, 14—16 Führung).

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