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Provokationen russischer Gegenwartskünstler im Museum für Angewandte Kunst.

Chronischer Geldmangel, Hoffnungslosigkeit und Chaos setzen Russland seit dem Fall des eisernen Vorhangs hart zu. Trotzdem dringen aus den "Laboratorien freier Künste" kräftige Lebenszeichen einer jungen, radikalen Kunstszene zwischen den Plattenbauten und Slums von Kaliningrad bis Wladiwostok. Die Ausstellung "Davaj! Russian Art Now!" im MAK bietet eine Momentaufnahme. In Kooperation mit Wien und den Berliner Festwochen wählte ein russisches Kuratorenteam 38 Künstler aus. Erstmals reicht der Blick über Moskau und St. Petersburg hinaus bis in die tiefste Provinz.

"Das Erwachsenwerden der zeitgenössischen Kunst begann, als sie den Untergrund und das Inoffizielle verlassen hatte," schreibt Anna Metwejewa. Das politische Tauwetter weckte im Westen Neugier auf offene russische Kultur und löste einen "Russischen Boom" aus. 1988 kam es zu einer Moskauer "Sotheby's" Versteigerung, 1991 folgte prompt die Ernüchterung. "Statt des früheren Reichs des Bösen, das unversehens seine geheimen Kerker lüftete, kam ein Haufen armer, unbekannter Länder zum Vorschein", so Metwejewa. "Die schwindende Nachfrage war wohl das kleinste Übel. Bei der Enttäuschung in Ideologie, Theorie oder im Allgemeinen hilft Konkretes, Individuelles und Alltägliches. Ende der 90er kehrt das Sujet in die Kunst zurück, es kam auch der Geschmack für Privates und Intimes. Die Jahrtausendwende ist in Russland ein Sammelsurium individueller Taktiken, Sujets und Projekte. Die Kunst ist nun das Los der Einzelgänger, jeder kämpft um seine Wahrheit."

Kunst aus dem Chaos

Die jungen Russen blicken nicht mehr in den Westen, sie wehren sich gegen die Qualifikation als "Künstler der Dritten Welt", gegen Vereinnahmung und Interpretation. Die vielfältige, rege Kunstproduktion spiegelt den Zustand eines Landes an der permanenten Kippe zum Ausnahmezustand wider. Das Spektrum der gezeigten Arbeiten reicht von Tafelbild, Fotos, Installationen, Performances, Happenings bis hin zu Videos und neuen Medien. Sergej Proworow und Galina Mysnikowa wandeln beispielsweise Werbung in ihrer Ästhetik zu Kunst um. Enttäuscht von Ideologien und Heilsversprechen aller Art, unklaren politischen Machtverhältnissen ausgesetzt und ohne tragfähigen Markt sind die Künstler auf ihr kreatives Potential zurückgeworfen. "Davaj!" bedeutet: "Los!" Experimentierfreudig und energiegeladen stürmt die Szene drauflos: absurd, provokativ, verzweifelt, witzig, nachdenklich, brutal, irritierend, übertreibend, sarkastisch, mit starkem Hang zur Selbstinszenierung. Kalt lässt einen der explosive Cocktail aus den Laboratorien freier Künste nicht.

"Damit wir Russen inspiriert werden, damit etwas auf uns wirkt, außer einer Salve aus der Maschinenpistole, bedarf es starker Mittel. Nichts kann uns beeindrucken. Man kann mit dem Hintern gegen den Fernseher lehnen oder aus dem Hintern ein Mädchen gebären", meint Konstantin Skotnikow.

Zu allem bereit

In einer einstündigen, quälenden Performance tut er eben das, presst weinend eine exkrementbeschmierte Puppe aus seinem Rektum. "Ich zeige euch diesen Schmerz, den der Nachbar in meinem Haus in seiner trostlosen Wohnung genauso empfindet wie ich. Ich nehme es auf mich, mit meiner Performance, mit meiner Kunst, seinen Schmerz auszudrücken." Skotnikow bildet mit Wjatscheslaw Misin und Dimitrij Bulnygin die radikale Nowosibirsker Gruppe "Die Blauen Nasen". Unterleibslastig, exhibitionistisch, ohne Rücksicht auf Verluste bringen die drei in drastischen Videos, Fotos und Performances Sibiriens trostloses Lebensgefühl auf den Punkt. Skotnikow: "Misin sagte mir eines Tages: ,Komm, wir nehmen die Kettensäge und fahren nach Moskau. Dort sägst du dir ein Bein ab und verkaufst es.' ,O.K, 'sagte ich. ,Geht nicht', sagte Misin. ,Wir haben keine Kettensäge.' Das ist das Problem: ich bin bereit, mir das Bein abzusägen, aber es fehlt das Geld für die Säge." Zynischer Fatalismus wird zur Überlebensstrategie in der Depression. "Für die Kunst sind wir zu allem bereit."

"Der Künstler will durch seine Arbeit die Welt retten, oder er versagt. Wir nehmen das Projekt Kunst ernst und arbeiten nicht für den Kunstmarkt", meint Bogdan Mamonow. Mit Anton Litwin, Valerij Ajsenberg und Lisa Morosowa bildet er die Gruppe "Escape", die vor allem sozial agiert. Im MAK hat sie ein Reisebüro der anderen Art eingerichtet. Moskau, New York, das kleine Nest Matjuschino und Zarendorf sind die Destinationen, die die imaginäre "Touristik Agentur Escape" vermarktet. "Unsere Touren sind Performances. Künstler verbünden sich mit dem Betrachter, am Ende wird auch er zum Künstler", erklärt Morowa die Strategie. "Touristic Escape ist Flucht von Illusionen in reales Leben. Wahre Realität können für Sie nur Künstler entdecken", heißt es im Prospekt. Mit Morosowa kann in Zarendorf jeder den "Puschkin in sich" finden und den Sonnenaufgang der russischen Poesie erleben. Mamonow taucht in einer Badewanne in der Wildnis in die Realität ein und verspricht im dörflichen Landidyll von Matjuschino die Erfüllung der kühnsten Wünsche. Litwin rennt blind mit einem roten, über den Kopf gezogenen Pullover und ausgebreiteten Armen über den Roten Platz: "Davaj v Moskvu!"

Jeder ein Einzelkämpfer

Eindringlich ist die Installation von Olga Jegorowa und Natascha Perschina-Jakimanskaja. Weiße, durchlöcherte Hemden mit roten Flecken hängen da im dunklen Raum, lassen Blut, Tod, Leid, Trauer, Opfer assoziieren. Fragile Hüllen für ermordete Seelen. "Überhaupt neigt sie stark zu einer speziellen russischen Krankheit, die darin besteht, die eigene Seele zu zerfleischen", tönt es aus einem Lautsprecher in die Stille. Der ersten Terroristin Russlands, Vera Iwanowna Sassulitsch (1850- 1919), ist diese Arbeit gewidmet. Idealismus und Gerechtigkeitssinn machten sie zur Mörderin des Petersburger Stadtkommandanten General Trepov. "Sie ist eine Figur, mit der sich jeder identifizieren kann", meint Jegorowa.

Eine Museumsparodie installiert Alexander Schaburow. Als Pendant zum US-Batman erfand er den russischen Superhelden Iwan Frosch. Schaburow verschmilzt mit seiner Traumfigur: das Sammelsurium zusammengetragener Dinge stammt aus seinem Privatbesitz. Kinderbücher, Spielzeug, Vodka-Flaschen, Lenin, Mars-Schokoriegel, Ketchup, Superhelden und Monster aus Plastik, Musikvideos und Fernsehaufzeichnungen über den Tschetschenienkrieg, den Fall der Berliner Mauer, den Rücktritt Gorbatschows bis zur Explosion des World Trade Center spiegeln Russlands Geschichte. Sie bilden einen faszinierenden Traumraum zwischen Wirklichkeit und Sehnsucht. Schaburow: "Der Künstler muss nicht erst auf der fernen deutschen Biennale ein Künstler sein, sondern bereits bei sich zu Hause in der Küche. Er sollte Kunst aus den elementarsten Verrichtungen des Lebens machen: aus Geburtstagen, Hochzeiten, Totenfeiern."

Überlebensdokumentation

Kerim Ragimows "Mercedes-Projekt" widmet sich dem russischen Statussymbol Mercedesstern. In aufwendigen fotorealistischen Bildern spürt er ihm nach. Abgeschraubte, verstümmelte, verbogene, auf fremde Autos montierte Mercedessterne erzählen stille Geschichten vom Raub: der Stern wurde zum Standardaccessoire von Neureichen und Ganoven. Grausam ist Anna Timofejewas Fotoserie "Growing Harder". Auf das Organ eines Herzens ist brutal mit Bindfarben ein Herz genäht. Füße in weißen Wollsocken, einer blutgetränkt. Dass das Herz ein Hühnerherz und das Blut unecht ist, nimmt den Fotos nicht ihre Schockwirkung. Still, beharrlich und asketisch malt der Einzelgänger Oleg Chwostow täglich seine bunten, plakativen, seriellen Selbstporträts. Über tausend gibt es schon, einige sind zu sehen.

"Eine einheitliche Definition der aktuellen Kunst in Russland gibt es kaum. Es lassen sich nur Bestandteile eines großen Chaos aufzählen. Alles, was noch vor kurzem als "Richtung" oder "Bewegung" galt, fiel auseinander. Statt dessen entsteht ein Durcheinander aus individuellen Gesten und das Warten auf Neues. Es sind nun Geschichten auskeimender und scheiternder Hoffnungen, Geschichten der Enttäuschung, Variationen um Identifikation und deren Verlust", so Anna Matwejewa. Die aktuelle russische Kunst ist in jeder Hinsicht auf Identitätssuche. "Diese Ausstellung ist eine überzeugende Dokumentation des Überlebens in der Identitätskrise. Die Kunst scheint sich in dieser Rolle wohl zu fühlen: sie bleibt facettenreich, dynamisch, flüchtig und munter."

Davaj! Russian Art Now

Bis 22. September Di. 10.00-24.00, Mi. - So. 10.00-18.00. in der MAK-Ausstellungshalle, Weiskirchnerstr. 3, 1010 Wien

* Davaj! Davaj! (= Los! Los!)

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