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Locarno ist eine wunderschöne Stadt

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Locarno, wegen des milden Klimas „Nizza der Schweiz“ genannt, liegt zwischen steilen Berghängen malerisch an eine Bucht des Lago Maggiore geschmiegt; es ist ein prachtvoller Ferienort, der in Bauart, Bevölkerung und Vegetation italienische Prägung aufweist: enge, steil abfallende Gassen in der Altstadt, in den neuen Villenvierteln am See großzügig angelegt, mit üppigen Garten- und Parkanlagen, in denen neben Palmen und Agaven Mimosen, Kamelien und Magnolien in üppiger Farbenpracht blühen und leuchten. Die Menschen sind südlich-lebhaft, temperamentvoll und freundlich, wenn man sich des Italienischen — der Landessprache — bedient, doch wenn man allzu laut eine deutsche Frage stellt, spürt man, wie die Gesichter verschlossen werden. Erstaunlich in einem Lande, in dem die Kinder in der Schule mit drei Sprachen aufwachsen, Italienisch, Französisch und Deutsch, wie es dem Charakter der Schweiz entspricht. Doch schnell genug wird diese Haltung verständlich, wenn man die deutschen Touristen beobachtet, die wie Heuschrek- ken in Schwärmen die Stadt besetzen, oder gar die Wirtschaftswunderkapitäne und Filmmillionäre in all ihrer Überheblichkeit und Herablassung. Sie besitzen Villen mit Swimming-pools und benehmen sich wie die Herren der Stadt — und Locarno ist eine wunderschöne Stadt

Daß hier alljährlich Filmfestspiele abgehalten werden, ist der ebenso verständliche wie unnötige Aufputz eines Ferienparadieses. Die internationale Bedeutung dieses Festivals ist — seien wir ehrlich — sowohl kommerziell wie künstlerisch gering; doch es hat sich eingeführt und, wird wohl auch weiter so bleiben denn gflbt, kein Į zweites Festival in einer so ferienhaften Umgebung, mit einer so privat-intimen Atmosphäre und daneben auch so hitzige Debatten (die in der Animosität gegen alles teutonische gipfeln). Schon die Eröffnung der heuer zum 16. Male stattfindenden Festspiele der tönenden Leinwand war ein Programm, war eine Kundgebung: „Le Quattro Giornate di Napoli“ — die Schlacht um Neapel — jener italienische Film, der in Deutschland wegen seiner etwas aggressiven Haltung heftig bekämpft wird. Der erste Niederschlag war am nächsten Morgen ein vom Grand-Hotel herausgegebenes Bulletin, in dem es sich von der Aufführung distanzierte; eine schwierige Situation — denn dieses größte Hotel Locarnos ist gleichzeitig Sitz der Festivaldirektion wie Gastgeber zahlreicher deutscher Touristen ... Doch bereits am Abend waren wieder alle erhitzten Gemüter beruhigt und alles saß friedlich vereint in den zahlreichen Cafes und Lokalen — denn Locarno ist eben eine wunderschöne Stadt...

Die weiteren Filme waren so durchschnittlich und mäßig, daß die Jury, unter dem Vorsitz des künstlerisch wie menschlich großen Michel Simon, es leicht hatte, ihre Preise zu vergeben: Ein tschechisches Drama über das Ghetto in Theresienstadt (Drehbuch: AmoštLustig), „Transport aus dem Paradies“, stand auf ebenso einsamer Höhe wie das faszinierende Erstlingswerk „I B a s i 1 i s c h i“ (Die Leute aus der Basilika) einer jungen italienischen Regisseuse, eine sozialkritische Reportage voll Poesie, Wehmut und gegen Schluß von fast klassischer Tragik; man wird sich den Namen Lina Wertmuller merken müssen ... Die zwei weiteren Preise, „Silberne Segel“, gingen im Sturm des Publikumsmißfallens unter. Die Höhepunkte der Filmfestspiele war eine großartige Retrospektive über das Filmschaffen John Fords, eine einmalige Zusammenstellung, die eine Zeitspanne von fast 40 Jahren Filmgeschichte umfaßte und (besonders uns Österreichern) die seltene Gelegenheit bot, die Hauptwerke des Regisseurs in Originalfassung kennenzulemen oder wiederzusehen. Und hierin liegt vielleicht die Zukunft des Filmfestivals von Locarno: Anstatt mühsamst Filme zusammenzusuchen, die die anderen, bedeutenderen Festspiele übriggelassen haben, sollte man hier ein Retrospektivfestival von wirklich internationaler Bedeutung schaffen; die Ansätze sind ja bereits vorhanden; man braucht sie nur zu erweitern und auszubauen. Und es besteht bestimmt keine Gefahr, daß dann weniger Filmleute, Kritiker und Journalisten kommen werden — denn Locarno ist auch so eine wunderschöne Stadt..

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