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Malerparadies am See

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Im Jahr 1905 wurde von vier Archi-tekturstudenten der Dresdner Technischen Hochschule — Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff — die Vereinigung „Die Brücke“ gegründet, in der Gleichgesinnte sich zusammenschlössen. Ihr Ideal war eine un-reflektierte, impulsive Malerei, breitflächig und farbig. Sie liebten die französischen „Fauves“, Gauguin und van Gogh vor allem, aber auch Edvard Münch. Seit 1906 gaben sie, nachdem ihre erste Ausstellung so gut wie unbeachtet geblieben war, eine Jahresmappe mit Lithographien heraus. Wie überhaupt die Lithographie und der Holzschnitt von ihnen wieder zu Ehren gebracht werden sollten.

Bereits 1906 schloß sich ihnen Emii Nolde an, der eineinhalb Jahrs im Kreis der Brücke-Maler weilte, 1908 zog Max Pechstein nach Berlin, 1911 folgten ihm Kirchner und Schmidt-Rottluff. Heckel und Kirchner hatten fast gleichzeitig die primitiven Skulpturen entdeckt, die einen unübersehbaren Einfluß auf Ihr Schaffen übten. — Es gab also schon in der Frühzeit der „Brücke“ genug Querverbindungen. Aber nie war der Kontakt stärker, die Harmonie vollkommener als in den Sommern der Jahre 1909 bis 1911, die die Künstler gemeinsam an den Moritzburger Seen in der Nähe Dresdens verbrachten.

Gegenwärtig wird in dem fast in ländlicher Umgebung gelegenen „Brücke-Museum'1 in Dahlem, das seine Existenz zwei großzügigen Stiftungen durch Schmidt-Rottluff und Heckel (der zu Beginn dieses Jahres gestorben ist) sowie der Unterstützung des Berliner Senators für Kunkt und Wissenschaft verdankt, zum erstenmal versammelt, was seit 60 Jahren getrennt war, nämlich eine fast vollständige Kollektion aller jener Bilder von Heckel, Kirchner und Pechstein, die während der gemeinsam verbrachten Sommermonate 1909 bis 1911 entstanden sind. — Aus acht Museen und 14 Privatsammlungen wurden diese Bilder zusammengetragen, die bis 15. Dezember zu sehen sind.

Ihr gemeinsames Thema ist: der Mensch in der Landschaft und Badende. Max Pechstein hat in seinen Lebenserinnerungen geschildert, wie allmählich das Projekt „Malerparadies“ verwirklicht wurde. Die Moritzburger Seen kannten die drei Maler bereits seit mehreren Jahren. Durch Vermittlung des Hauswarts der Akademie wurde die Bekanntschaft einer Artistenwitwe vermittelt, deren beide Töchter, die ältere Marcella und deren erst dreizehnjährige Schwester als Modelle gewonnen werden konnten. Denn sie brauchten unverdorbene, unmanierierte Modelle, die sich noch frei zu bewegen -verstanden. Wenn ein männliches Modell benötigt wurde, so sprang einer der Maler ein. Immer wieder tauchte die Mutter der beiden Mädchen aus dem nahegelegenen Dresden auf, um sich zu überzeugen, daß alles auch anständig und ehrbar zuging. Sie konnte jeweils wieder beruhigt nach Dresden zurückkehren. Aber ein Ortsgendarm war anderer Ansicht, er ertappte Pechstein auf frischer Tat, nämlich beim Aktmalen in freier Natur, nahm eines der Bilde als Corpus delicti mit, und die Maler samt Modellen mußten sich auf eine kleine Insel zurückziehen, wo sie kein öffentliches Ärgernis mehr erregen konntet!. Nach drei Monaten kam die Vorladung zum Dresdner Landesgericht und der Freispruch durch einen kunstverständigen Staatsanwalt. Geht man durch die hellen schönen Säle des Brücke-Museums und verweilt vor diesen Bildern in ungebrochenen Farben (Blau, Rot, Grün und Gelb dominieren), so teilt sich dem Betrachter etwas von der paradiesischen Stimmung jener Sommermonate mit. — Dann aber macht man eine erstaunliche Entdeckung: Während doch die Bilder von Kirchner, Pechstein und Schmidt-Rottluff aus späteren Jahren ohne weiteres zu identifizieren, d. h. voneinander zu unterscheiden sind, tritt hier das Individuelle hinter dem Gemeinsamen zurück. Da oft zwei oder alle drei gleichzeitig vor denselben Modellen und Landschaftsausschnitten standen, sind die hier gezeigten 65 Bilder nicht nur „stilistisch“, sondern .auch in den Farben einander so ähnlich, daß auch für den Fachmann die Zuordnung an die einzelnen Maler schwerfallen dürfte: Ein sehr wichtiges Stück deutscher und europäischer Kunstgeschichte wurde hier von kundiger Hand (Leopold Reide-meister) mit den Mitteln eines modernen Museums exponiert und durchleuchtet.

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