6557589-1948_30_14.jpg
Digital In Arbeit

Manifestationen des Schmerzes

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Geschichte der Kunst der erstdn Hälfte des 20. Jahrhunderts wird deren Verhältnis zum Schmerz einer Betrachtung unterziehen müssen. In wechselnder Intensität, bisweilen in den Empfindungsformen der Qual oder des Leidens auftretend, ist er das zentrale Erlebnis der modernen Kunstrichtungen, mögen sie sich äußerlich auch noch so sehr voneinander unterscheiden. Der Zeitpunkt, zu dem er zum treibenden Grundgefühl künstlerischen Schaffens wird, läßt sich mit angeben: in Österreich sind es die Jahre, in denen Egon Schiele das Erbe Gustav Klimts übernimmt und Georg Trakl seine Gesänge des Grauens anstimmt. Der Beginn der Vorherrschaft des Schmerzes in der Kunst kennzeichnet die kurze Zeitspanne, in der auch die letzte Zuflucht der vorangegangenen Generation, die Schönheit, dem Angriff einer glaubenslosen Wirklichkeit nicht mehr gewachsen ist und in welcher der Künstler plötzlich erkennt, daß er außerhalb jeder religiösen, mythischen oder gesellschaftlichen Hierarchie in scheinbar hoffnungsloser Isolierung steht. So bricht in ihm der Schmerz der Verzweiflung auf: ihn verkünden die Expressionisten, ihn lassen die Kubisten zu geometrischen Gebilden erstarren und ihn beuten die Surrealisten bis auf seinen Bodensatz aus. Dort, wo er eintritt, ist auch der Ursprung jener merkwürdigen und noch nicht genügend erforschten Künste der Zivilisation zu suchen, die anders als die hergebrachten Kunstgattungen keinem metaphysischen Bedürfnis ihr Dasein verdanken: so der Film, die Reportage, gewisse Formen der modernen Unterhaltungsmusik und das Plakat. Kommerziellen Forderungen oder technischen Experimenten entwachsen, dienen sie auf verschiedenste Weise dazu, vom Schmerz abzulenken, ihn zu betäuben.

Der Kritik und der Kunstbetrachtung, die vor moderner Kunst mit ausschließlich ästhetischen Kriterien nicht mehr ihr Auslangen finden, gewährt die Kenntnis des Verhältnisses zum Schmerz neue Möglichkeiten der Beurteilung. Wie im körperlichen, so zeigt der Schmerz auch im geistigen Bereich Störungen und Krankheiten an; freilich ist zu beachten, daß er ebenso den Vorgang der Verletzung wie der Heilung begleitet und daß er kathartischer Wirkung ebenso fähig ist, wie zerstörender. Wo er auftritt, soll daher mit Vorsicht die Diagnose gestellt werden; wo Versuche zu finden sind, den Schmerz im Kunstwerk und durch die Form zu überwinden — sie sind nicht selten —, wird man solches als Anzeichen einer beginnenden Heilung begrüßen dürfen.

Im Schaffen Leopold Birstingers, der zum ersten Male in der Galerie Welz eine Kollektion von Ölbildern, Graphiken und Aquarellen zeigt, steht das Erlebnis des Schmerzes im unverhüllten Hintergrund. Ihm verdankt der Künstler Bilder, die durch die Unmittelbarkeit der Anschauung erschüttern. Freilich wandelt sich ein wenig dieses Gefühl, das man etwa vor dem Bildnis eines Ehepaares empfindet, wenn man die ausgestellten Arbeiten in ihrer Gesamtheit betrachtet. Die Ausschließlichkeit nämlich, mit der Themen, wie Tod, Vergänglichkeit, Verzweiflung oder Trauer, abgewandelt werden, zerlegt den Schmerz — der ja seine Intensität der Kürze seiner Dauer verdankt, darum aber auch nicht beliebig oft in gleicher Stärke dargestellt werden kann — in eine unendliche Reihe kleinerer, aber anhaltender Qualempfindungen. Anders aber als der Schmerz reißt die Qual nicht empor, sondern drückt nieder, erschüttert nicht, sondern verschütte . Die in geringer Zahl vorhandenen Landschaften, farbenfrohe Stücke, atmen ungebrochene Freundlichkeit aus.

Die Kunstgeschichte der neueren Zeit ist nicht arm an Künstlern, deren Vitalität zu schwach war, um dauerndem Schmerz, wenn ihn äußerer Druck verschärfte, zu widerstehen; es finden sich unter ihnen viele, die entweder Selbstmord begingen oder dem Irrsinn anheimfielen. Werke zweier schizophrener Künstler stellt die Albertina derzeit aus. Im ersten Falle, dem des bis jetzt in Wien unbekannt gewesenen Schweden Ernst Josephson (1851 bis 1903), handelte es sich um einen Menschen, der am Ästhetizismus der Jahrhundertwende zugrunde ging; ohne ihn überwinden oder seine Inhaltsleere mit Bedeutungen erfüllen zu können, steigerte er die äußeren Formen ins Manische und Expressive; was der Gesunde nicht leisten konnte, leistet für ihn die Krankheit: sie läßt inmitten einer ästhetisierenden Umgebung plözlich ein Detail, einen Baum oder eine Figur zu wuchern beginnen, als wäre sie ein Geschwür, und verleiht so der Zeichnung oder dem Aquarell die schreckliche Eindringlichkeit des Krankhaften. • Andere Ursachen hat die Schizophrenie des Berliners Walter K a m p m a n n (1887 bis 1945, in Berlin verhungert). Hier bedeutete der Wahnsinn Zuflucht vor einer Bedrängnis, die von außen kam: 1933 wurde Kampmann als „entartet“ verfemt; was nun entstand, wurde im geheimen und unter ständiger Bedrohung geschaffen. In der Welt des Wahnsinns, die in den Aquarellen und Zeichnungen Kampmanns erscheint, ist alles . gleichsam von Schreck erstarrt und darum überdeutlich; gelegentlich nimmt sie auch deft Charakter märchenhafter Verzauberung an. Dem verworrenen Sinn des Künstlers erscheint alles, was er sieht, bedrohlich, schmerzlich und voller Gefahr.

In beiden Fällen lag am Anfang des Schaffens zweifellos echter Schmerz vor; doch spricht er zu uns nicht unmittelbar, sondern durch das Medium des Wahnsinns. In diesem aber macht er eine Substanzänderung durch, die seine Ergebnisse jeglicher Kontrolle des Künstlers und des Betrachters entziehen. Das aber t für die Beurteilung solcher Kunst entscheidend: sie gehört, aller künstlerischen Wirkung, die vor allem den Blättern Kampmanns zugestanden werden muß, unerachtet, in das Fachgebiet des Psychopathologen. Ihre Entstehung und die Ursachen ihres Daseins mag symptomatisch für Unsere Zeit sein, das Produkt aber stellt einen individuellen Fall dar, dem man keine allgemeine Gültigkeit zusprechen kann. Das Unternehmen, dem Besucher durch eine einleitende Kollektion Klimtscher Zeichnungen Josephson und Kampmann zugängig zu machen, ist anfechtbar. Zwar stellt das Werk Klimts unbestreitbar und im kunsthistorischen Sinne gewiß eine stilistische Vorstufe zu Josephson dar. Indessen absorbiert die Zeichenkunst Klimts jede ethische oder verstandesgemäße Beurteilung zugunsten einer rein ästhetisdien. Tritt man aber nur mit einer solchen an die Kunst der beiden Schizophrenen heran, so müßte dies zu verfälschenden und die Begriffe verwirrenden Schlußfolgerungen führen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung