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MASKEN, WAGEN UND BLUMEN

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7 s gibt wohl wenige Theatergebäude in Europa, welche auf die -f figürliche Darstellung ihres Emblems, das zugleich Symbol irer Urelemente ist, verzichten; irgendwo begegnen wir fast nmer den beiden, anscheinend voneinander untrennbaren Mas-en, welche als Verkörperung der Tragödie und der Komödie das eschenen auf der Bühne des Theaters und des Lebens bestim-en.

Zwischen diesen beiden Polen, die zum Sinnbild der dramatischen Aktion schlechthin geworden sind, kristallisiert sich das Wesen der einzelnen Charaktermasken, welche, in der Archaik bereits vorhanden, in der klassischen Epoche zu einer stattlichen Typenreihe entwickelt wurden.

Der große Thespis, der wohl mit Recht als der Schöpfer des autonomen, aus den kultischen Zeremonien gelösten Theaters angesprochen wird, trat immer in mehreren Rollen und mit drei verschiedenen Masken auf: eine Schminklarve aus Bleiweiß erinnerte an die Gipsmaske der Titanen, eine aus Portulak geformte deutete auf den Frühlings- und Blumengott Dionysos und eine Maske aus feiner, bemalter Leinwand unterstützte die mimische Vielseitigkeit des großen, auch als Regisseur und Choreograph hervorragenden Künstlers.

In der Tragödie der griechischen Blütezeit im 5. vorchristlichen Jahrhundert gab es außer,den Masken--für die 28*all--gemeinen, noch solche für 30 besondere Figuren, die aus Baumrinde-und Leder, in späterer Zeit aus Hole verfertigt-wurden. Masken für Jünglinge, Männer und Greise, Masken für Jungfrauen und verheiratete Frauen hohen und niederen Standes, Masken für Herolde und für Sklaven. Wir kennen sie aus den Darstellungen der griechischen Vasenmalerei und wir wissen, daß sie, außer dem Zwecke zu typisieren und zu charakterisieren, auch zur Verstärkung der Stimme des Sprechers dienten, die sich in der ungeheuren Weite des antiken Freilufttheaters nur mit größter Anstrengung Gehör verschafft hätte; es war nämlich in der zumeist den ganzen Kopf bedeckenden Maske ein schalltrichterartiges Mundstück eingebaut, durch, welches die Stimme hindurchtönte. „Hindurchtönen“ — personare — so wurde die Maske, welche den Charakter der Rolle ausdrückte und schließlich der Schauspieler selbst, als Träger der Rolle, Person genannt. Durch die Übersetzung lateinischer Komödien im sechzehnten Jahrhundert fand dieser Terminus auch in die deutsche Sprache Eingang.

Heute treten die Darsteller in den antiken Amphitheatern von Griechenland und Süditalien ohne Maske — und auch ohne Kothurn! — auf die Szene; wohl sind moderne Lautsprecher an mehreren Stellen postiert, doch dienen diese vor allem der gleichmäßigen akustischen Diffusion der Stimme des Chores und der Musik. Es ist der hochentwickelten Sprechtechnik der zeitgenössischen Künstler zu verdanken, daß sie sich auch im „Luftraum“ des größten Theaters der Antike durchzusetzen vermögen, nämlich in jenem von Syrakus, das 40.000 Zuschauer faßt und alle zwei Jahre im Frühsommer klassische Aufführungen von hohem Niveau in stilbewußter Gestaltung bietet.

Will man heute in einem der seit dem Barock über die ganze Apenninen-Halbinsel hin verbreiteten, geschlossenen Theatergebäude ein Programm kaufen, so wird man an die „maschere“ gewiesen. „Maschera“, aus dem mittellateinischen „masca“ gebildet, kann wohl nichts anderes- als „Maske“ heißen — wo in aller Welt gibt es bei Masken Programme zu kaufen?!

Besonders in Venedig, der Stadt des Karnevals und seiner liebsten Kinder, der Masken, wäre man gar nicht erstaunt, wenn eine der von Pietro Longhis, hinter ihren Larven so unheimlich faszinierend wirkenden Gestalten, von den in ihrer Nicht-Existenz ebenso zauberhaft unheimlichen Logenbrüstungen und Balkons, die eine virtuose illusionistische Perspektive an die Wände und Decken des Palazzo Grassi gezaubert hat, herabstiege und mit unnachahmlicher Grazie ein Programm überreichte. Zurückgerufen in die Realität der Gegenwart, begreift man schließlich, daß die „maschere“ die livrierten Theaterdiener sind, die an den Türen stehen — und ist nicht nur mit der profanen Wirklichkeit, sondern mit einer neuen Funktion der Maske konfrontiert. Hier will sie weder Typen noch Charaktere darstellen, im Gegenteil, sie will verschwinden lassen — und zwar nicht so kokett „nur zur Hälfte“, wie die graziöse Rokokogesellschaft hinter ihren Halbmasken, sondern zut Gänze. Gewiß sind die würdevollen Hüter der, italienischen Kunsttempel nicht im optischen Sinne von der Bildfläche verschwunden, aber die braune Livree hat die individuellen Eigenheiten ihrer Erscheinung aufgesogen, sie zugedeckt — und man denkt unwillkürlich an die japanischen Puppenspieler, welche, unter einem schwarzen

Waren es Masken, welche sich seit der griechischen Kolonisation von Sizilien aus bis in die nördlichen Provinzen verbreitet und an vielen Orten auch heute noch in den Karnevalsfeiern erhalten haben, so sind es die Palmen und die Blumen, welche die ligurischen Küstengebiete zu einem Paradies gestalten, in welchem noch der Geist des Baumes, der Pflanze und der Blume lebt.

Wenn alljährlich, zu Beginn des Rivierafrühlings, San Remo seinen „Corso Fiorito“ abhält und die riesigen, mit außerordent-ljfher künstlerischer Vollendung gestalteten Blumenwagen, genannt carri, denen immer eine Volkstanzgruppe voranschreitet, in festlichem Zuge durch die Straßen rollen, gewinnt man sofort den Eindruck, daß sich hier etwas abspielt, das weit über den landläufigen Begriff „Blumenkorso“ hinausgeht. Man wird gewahr, daß hier Ströme zusammenfließen, die, aus den Tiefen des Mythos kommend, noch immer als verborgene Ouellen

Ein beglückendes und zugleich äußerst aufschlußreiches Erlebnis bieten die heimischen Musikgruppen; durch ihr Ver-“wurzeltsein in Süden un4 Soune, mit ihrer hinreißenden Dynamik und Gestik, scheinen sie der alten Commedia dell'Arte unmittelbar entsprungen. Wenn ein mit der weißen Mütze eines Kochs gekrönter Tambour, in Schlangenlinien tanzend und mit unwiderstehlicher Komik agierend, vor seiner „Banda Canta e Scius-cia“ von San Remo toll daherwirbelt, und diese ihre mit allerlei Kochgeschirr, Kaffeemühlen, Ofenröhren und ähnlichen Attributen versehenen Instrumente klingen und dröhnen läßt, besonders aber, wenn die Musikgruppe „Florelia“ von Ospedaletti mit überdimensionierten und phantastischen Blumen- und Pflanzenemblemen, mit welchen sie ihre Instrumente schmückt, erscheint, spürt wohl ein jeder, daß hier zum Teil wohl verschüttete, aber doch nicht versiegte Quellen echten Volkstums, seines urmerischlichen Spieltriebs und seiner urmenschlichen Sehnsucht nach Schönheit und Freude hervorbrechen, die auch den blasierten und übersättigten Menschen unserer Tage mit zwingendem Impetus in ihren Bannkreis ziehen. Im Zeichen einer märchenhaft üppigen Vegetation werden hier unvergleichlich schöne Feste gefeiert, die mit ihrem Brauche, alle Teilnehmer mit Blumen zu bewerfen, an den Ritus der altitalischen Frühlingsfeiern anknüpfen: die Kraft des pflanzlichen Lebens möge sich allen Anwesenden mitteilen, und sie mit dem Geist und dem Segen der Natur erfüllen.

Die „carri“, von denen jeder einen wahren Zaubergarten herrlichster Blumengebilde trägt, haben ihr Gegenstück in jenen Wagen, auf deren ebenfalls ungewöhnlich großer Plattform, zu bestimmten kirchlichen Festen, überlebensgroße Heiligenfiguren aufgebaut und oft zu vielköpfigen Gruppen vereinigt werden, die als „Wagenprozessionen“ durch Stadt und Land fahren.

Der sagenhafte Thespiskarren, der Wagen des römischen Triumphators, das primitive Gefährt, auf welchem, oft mangels eines kostspieligen Bühnenaufbaus, sowohl das mittelalterliche Mysterienspiel als auch zuweilen die buffonesken und carneva-lesken Farcen fahrender Gauklertruppen sich abspielten, bis zu den großen Auffahrten und Aufmärschen, nämlich Prozessionen geistlichen und weltlichen Charakters — sie alle haben sich aus einem sehr lief liegenden Urgrund entwickelt und lehren heute noch, mehr unbewußt als bewußt, von den Kräften dieser verborgenen, aber noch immer lebendigen Quelle. ange Straße, die an diesem heiligen Tag zur „via crucis“ geworden ist, erhellt ein Meer von Fackeln. Drei Ritter des Satri-ano-Ordens eröffnen, hoch zu Roß, den nicht enden wollenden Zug, an dem die ganze Bevölkerung teilnimmt. In mittelalterliche Bußgewänder gekleidet, schreiten mit verhülltem Angesicht die diversen Confiaternitäten, drei ebenfalls maskierten Männern voran, die einen Strick um den Hals und ein großes Holzkreuz auf ihren Schultern tragen. Ihnen folgt bloßfüßig, eine Dornenkrone auf dem Haupte, der Träger des größten Kreuzes; auch sein Antlitz ist verhüllt. Auf den Ruf eines Burschen im Gewand der römischen Soldaten tritt später ein unmaskierter Mann hinzu und hilft das Kreuz tragen.

In völliger Anonymität verschwinden die Akteure dieses geistlichen Dramas — ein solches ist dies hier — in einer seiner Grundformen, die später zu großangelegten dramatischen Darstellungen christlicher Heiligenlegenden führte, die im 16. und 17. Jahrhundert mit einer aus oft mehr als 100 Personen gebildeten Komparserie unter größter Prachtentfaltung wahre Monumentalaufführungen boten, über welche zahlreiche Berichte und Texte in den verschiedenen Archiven und Bibliotheken vorhanden sind.

Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit beschäftigt sich die Forschung mit diesen Schätzen, die wertvollste Aufschlüsse über ein christliches Brauchtum geben, das bisher nur wenig beachtet worden ist. Während eine überaus intensive wissenschaftliche Tätigkeit die Riten, Sitten und Gebräuche der außer-europäschen Völker bis in die Prähistorie verfolgt und ihren Sinn zu deuten versucht, ist die religiöse Folklore des Christentums, deren Formen und Gestalten ihrem Wert und Wesen nach viel tiefer erkannt und bewußter erfaßt werden müßten, noch viel zu wenig bekannt und erkannt. Es ist immer der Geist, welcher die Erscheinungsformen schafft, und Geschichte der Formen ist immer Geschichte des Geistes; denn sie sind mehr als bloße Wirklichkeit, sie sind Symbol.

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