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Matisse zu Ehren

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Pausenlos wird von dem kürzlich renovierten Pariser Grand Palais Gebrauch gemacht: kaum waren die Bilder der Chagall-Retrospektive abgehängt, begann man schon mit dem Aufhängen der Matisse-Gemälde, die für Frankreichs um ein Jahr verspätete Hommage zum 100. Geburtstag des Künstlers in zweijährigen Bemühungen aus allen Himmelsrichtungen zusammengetragen wurden.

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Pausenlos wird von dem kürzlich renovierten Pariser Grand Palais Gebrauch gemacht: kaum waren die Bilder der Chagall-Retrospektive abgehängt, begann man schon mit dem Aufhängen der Matisse-Gemälde, die für Frankreichs um ein Jahr verspätete Hommage zum 100. Geburtstag des Künstlers in zweijährigen Bemühungen aus allen Himmelsrichtungen zusammengetragen wurden.

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Andre Malraux hatte im Sommer 1968 die Idee zu dieser Ausstellung, als er in der Leningrader Eremitage vor den in Frankreich nur vom Hörensagen bekannten frühen Matisse-bildern stand, die zwei seiner ersten Bewunderer, die russischen Mäzene Sergej Schtschukin und Iwan Moro-sow mit anderen Hauptwerken der modernen französischen Malerei für sich erworben hatten. Verhandlungen auf diplomatischer Ebene waren notwendig, um wenigstens 25 der 50 Gemälde in Paris zeigen zu können. Ohne diese Werke hätte die Ausstellung ihr Ziel, dank maximaler — und für lange Zeit wohl einmaliger — Vollständigkeit auf das bisherige Matisse-Bild grundlegend einzuwirken, kaum erfüllen können. Lücken sind zwar auch hier zu spüren: ebenso wie die 1917 in Berlin von dem Dänen Rump erworbene und später dem Königlichen Museum in Kopenhagen vermachte Matisse-Sammlung unterliegt auch der legendäre Matisse-Besitz des amerikanischen Mäzens Dr. Albert Barnes in Meryon bei Philadelphia statutengemäß dem Ausleihverbot. Als Henri Matisse 1954 starb, hinließ er „eines der brillantesten, harmoniereichsten und verschiedenartigsten Werke der modernen französischen Malerei“, an dem er seit seinem 21. Lebensjahr 60 Jahre lang praktisch zwölf Stunden täglich geschaffen hatte. Inventarisiert sind nahezu 1300 Gemälde, ebensoviele Zeichnungen, 60 Skulpturen, außerdem Keramiken, Kirchenfensterent-würfe und jene Buntpapiercollagen, die ihm an seinem Lebensabend neuen Ruhm und neue Triumphe einbrachten. Die französischen Museen sind nicht reich an Martisse-Werken, so stammen gut zwei Drittel der insgesamt 204 gezeigten Gemälde aus nicht-französischem Besitz.

„Bezeichnend für die moderne Kunst ist, daß sie an unserem Leben teilnimmt“, lautet eine Maxime des klugen und wortgewandten Kunsttheoretikers Matisse. Am Leben teilnehmen, Teil des Lebens sein: Matisse verstand darunter die heilsame, wohltuende Wirkung seiner Bilder auf den überanspruchten, müden Menschen unserer Tage. Der Nordfranzose, der dem Süden und seinen Farben verfiel, aber mehr als südliche Heiterkeit rekonstruierte, nämlich jene beruhigende, gelassene, selbst in Kriegszeiten unantastbare Daseinsfreude, schuf seine Bilder als Abbilder der eigenen Sinnesfreude, des prächtigen Dekors, mit dem er sich selbst umgab. Picasso sagte von ihm, er hätte die Sonne im Leib, und Gustave Moreau, dessen Schüler er war, prophezeite ihm, daß er die Malerei vereinfachen würde. Wie zutreffend beide Bemerkungen für das Gesamtwerk sind, beweist diese auf drei Stockwerken verteilte Ausstellung. Dank der 100 Bilder aus den Jahren in Nizza (1905—1919) gleicht ein Gang durch diese Epoche einem Gang durch einen sonnendurchfluteten Garten Eden. In den folgenden Jahren akzentuieren sich die Stilisierungen, die Linien werden zunehmender dünner, melodischer, die Arabesken klarer, gesetzmäßiger. Von seinen späteren Werken sagte Matisse — sehr zum Kummer seines Händlers Bernheim — daß es ihm nur noch auf Zeichen ankäme. Als Bernheim vor dem Bild „Frau am Brunnen“ ausrief: „Niemals werde ich sie verkaufen können, ich flehe Sie an, malen Sie zumindest den Mund!“, blieb Matisse ungerührt. „Wenn ich ihn übermalt habe (denn ursprünglich hatte es ihn gegeben), dann nicht deshalb, um ihn aufs Neue hinzumalen.“ Bedeutung erhält die Retorspektive vor allem durch einmalige Gegenüberstellungen. So ist zum Beispiel der „Tanz“ aus Leningrad neben seinem gleichnamigen, gleichgroßen Entwurf aus dem New Yorker Museum of Modern Art zu sehen. Eine Korrektion des bisherigen Matisse-Bildes, fünfzehn Jahre nach seinem Tod, dürften auch die dreißig Skulpturen bewirken. Wie Daumier, De-gas, Derain und Picasso war auch für Matisse die Bildhauerei mehr als eine Ausweichtätigkeit, aus der er nur Lehren für seine Malerei hätte ziehen wollen.

Am Schluß der Ausstellung bezaubert noch einmal die Schwerelosigkeit seiner Kunst in den „gouaches decoupees“, jenen oft zitierten Collagen. Voller Anmut sind die aufgelockerten Formen — Blumen, Laub und Blütenblätter — auf weißem Grund, deren Anordnung Matisse vom Bett oder Rollstuhl aus mit seinem langen Zeigestock dirigierte. Das graphische Werk — Zeichnungen Druckgraphiken und Buchillu-strätionen — ist in der Nationalbibliothek ausgestellt. Beeindruckte im Grand Palais die Prächtigkeit des Kolorits, so ergreift hier die Vollkommenheit der Linien, der Lieblichkeit der Gesichter, die würdevolle Schönheit der Odalisken, die Harmonie aller Formen, bei deren Anblick der Betrachter sich unwiderstehlich von Matisses Harmoniesehnsucht angesteckt fühlt. (Die Ausstellung ist bis Ende September geöffnet.)

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