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„Mein Geist ist christlich“

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Henri Matisse, der große französische Maler, hat in diesem Jahre eine weltweite Würdigung erfahren. In einem palmenumwehten Rivieranest zurückgezogen lebend, wurde er 80 Jahre alt. In Paris wurde eine Schau seiner jüngsten Schöpfungen zum Ereignis der Saison, in New York bestätigte eine vielbesuchte und diskutierte Ausstellung seinen Ruf als berühmtester Maler Europas — nächst Picasso, wie die amerikanische Presse meint —, und auch in Luzern wurden Werke aus allen Schaffensperioden des Meisters gezeigt.

Wenn der „Verlust der Mitte“ in der modernen Kunst wohl einerseits als Krankheitssymptom eines Zeitalters verstanden werden konnte, so zeigt er uns den Künstler doch andererseits auch als einen nach tiefer Erkenntnis Strebenden, wofür Matisse eine fast symbolische Stellung in der Moderne einnimmt. Er war zeitlebens ein Sucher, der sich nicht dem Schein, sondern dem Sein der Dinge hingeben wollte, es ging ihm letztlich nicht um Formen und Farben, sondern um Wahrheit.

So waren schon seine Kopien alter Meister, mit denen er vor 60 Jahren begann, mehr als reine Wiedergaben, er durchdrang, er sezierte, löste mit den Neoimpressionisten das ich dem Auge bietende Farbengefüge pointilli- stisch auf, um nach der reinen Farbe und schließlich nach der reinen Fläche Zu streben. Er wird ein Revolutionär, steht an der Spitze der „Fauves", der Wilden, die mit ihrer grellen Aggressivität wider alles Herkommen sind, und erlebt Verdammung ebenso wie höchste Begeisterung. Mit dem Kubismus erforscht er Geheimnisse der Form und Linie, in seiner Flach- und Dekorationsmalerei werden mittelalterliche Stilelemente lebendig, und auch die orientalische Welt bietet ihm Motive und mit. dem farbigen Flächenmuster der Arabeske neue Schaffenswege. Damit nicht genug, wie Van Gogh begeistern auch ihn japanische Seidenkreppe, die seiner Empfindung weitere Möglichkeiten weisen, in Scherenschnitten komponiert er wie ein Mu- , siker neue, erregende Farbenharmonien, wie sie sich in seiner Mappe „Jazz“ darbieten.

Man hat seine Situation als paradox bezeichnet: die ersten bahnbrechenden Werke des Bürgerschrecks Matisse fanden sich in deutschen und russischen Sammlungen — von deutscher wie von russischer Seite wurde er dann als entartet abgelehnt. Französische Kommunisten rechneten ihn gewaltsam zu den ihren, aber Moskau erklärte sein Werk als Produkt bürgerlicher Zerfallsdekadenz. Die Preise, die seine Bilder in Amerika erzielten, mußten ihn zum Millionär machen; in seinem Dasein spielten lange Jahre hindurch Frauen, Gesellschaft, Theater, Musik, Pferde eine große Rolle. Heute aber lebt er still und weltabgewandt in Vence, einer kleinen Kreisstadt an der französischen Riviera.

Rückkehr zur Mitte? Seit über einem Jahr arbeitet Matisse nur mehr an dem Projekt einer Kapelle für das Dominikanerkloster in Vence. Die neueste Photographie zeigt den alten Meister mit dem weißen Bart und goldumrandeter Brille vor den großen Skizzen für die Seitenwände der Notre-Dame-Kapelle und vor Entwürfen für Kirchenfenster. „Ich kann nichts anderes arbeiten“, erklärt Matisse, „ich hatte die größte Mühe, eine Illustration zu Ronsard zu machen. Mein Geist ist christlich, und es war mir nicht möglich, den heidnischen Geist Ronsard wiederzufinden.“

Von den Fauves bis zu diesem Bekenntnis, welch ein Weg! Weih ein Ergebnis dieses Geistes, der ausgezogen war, denkend und formend die Welt zu erkennen; Seite an Seite steht er mit den großen Physikern, Wissenschaftlern, Philosophen der Gegenwart, die zum gleichen Schlüsse kamen.

Matisse kümmert sich um den Aufbau der Kapelle. Er hat seine Freunde im Ausland mobilisiert und überweist die eingehenden Beträge auf das Konto „Kapelle" an die französische Nationalbank.

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