6668278-1960_47_10.jpg
Digital In Arbeit

MEISTER MATHIS

Werbung
Werbung
Werbung

Paul Hindemith, der einer schlesischen Handwerkerfamilie entstammt, wurde am 16. November 1895 in Hanau (im Fränkischen) geboren. Er zeigte die typische Frühbegabung des Musikers, und bevor er noch (1909) als Schüler ins Hochsche Konservatorium zu Frankfurt eintrat, spielte er im Kino, in einem Operettentheater, in einer Jazzband und schließlich auch in einem richtigen Orchester Geige. Mit zwanzig Jahren wurde er Konzertmeister des Frankfurter Opernhauses. Später vertauschte er die Geige mit der Bratsche, die er auch in dem berühmten Amar-Quartett spielte und mit der er zunächst bekannt wurde. 1919 fand der erste Hindemithsche Kompositionsabend statt, und im gleichen Jahr erschien sein erstes gedrucktes Werk (Drei Stücke für Violoncello und Klavier). Ihm waren mehrere Kammermusikwerke vorausgegangen, aber auch Hindemiths erste Vokalkomposition, eine Kantate auf einen Text von Wilhelm Busch und eine „Lustige Sinfonietta“. Während der Jahre 1921 bis 1926 war Hindemith der Spiritus rector der Donaueschinger Kammermusikfeste, wo jede seiner Uraufführungen Aufsehen machte. 1927 wurde er mit der Leitung einer Kompositionsklasse an der Berliner Hochschule für Musik betraut und war bis 1927 führend an der Programmgestaltung der Musikfeste von Baden-Baden beteiligt, bei denen das damals Neueste zur Diskussion gestellt wurde: Filmmusik, Funkmusik, Kurzopern, mechanische, Jugend- und Gemeinschaftsmusik. Aus dieser Sturm-und-Drang-Zeit stammt Hindemiths Ruf als revolutionärer Neuerer, Bürgerschreck und Enfant terrible der Tonkunst.

Als Komponist kam Hindemith — wie einige ungedruckte Frühwerke ausweisen — von Reger, Brahms und der Spätromantik her. Aber diese Anfangsphase, die er mit fast allen zeitgenössischen Tonsetzern teilte, überwand er erstaunlich schnell und gründlich. Impressionismus und Romantik waren verklungen, eine Zeit sozialer und kultureller Umwälzungen war angebrochen, und kein aufgeschlossener junger Mensch konnte davor die Augen und Ohren verschließen. Expressionismus und neue Sachlichkeit spiegeln sich bei Hindemith freilich mehr in der Textwahl als in der Musik. Zu seinen ersten Opern und Balletten wählt er Dichtungen von Kokoschka, Brecht, Franz Blei, August Stramm. Wenn man von gewissen Äußerlichkeiten — wie Parodien, Jazzelementen und ironisch-sarkastischen Spielanweisungen — absieht, ist diese erste schöpferische Periode durch den „Durchbruch des Elementaren“ gekennzeichnet: Verselbständigung der melodischen Linien, Betonung des Bewegungselements (bald tänzerisch, bald motorisch), Lösung von der Funktionsharmonik, klangliche Härten. Aber bereits in der „Kammermusik 1921“, mit ihrem berühmten Jazz-finale, steht ein zauberhaftes, stimmungsvolles „Quartett“, und in der infolge ihrer burschikosen Spielanweisungen ebenso „berühmten“ Klaviersuite 1922 ein fast romantisches „Nachtstück“. Bei der Befreiung der Musik von außermusikalischen Elementen, der Betonung der Stimmigkeit und des Handwerklichen war Hindemith unversehens bei Bach gelandet, dem seither seine besondere Verehrung gilt. (Nach dem Vorbild des „Wohltemperierten Klaviers“ schuf er später, 1943, seinen „Ludus tonalis“, und als Entsprechung zu den „Brandenburgischen Konzerten“ mag man Hindemiths Zyklus von konzertanten Kammermusikwerken für verschiedene Soloinstrumente betrachten.)

„Ich kenne“, so charakterisiert Hindemith 1937 seinen Weg, „die Nöte des Lehrers wie das Streben des Komponisten. Ich habe den Übergang aus konservativer Schulung in eine neue Freiheit gründlicher erlebt als irgendein anderer. Das Neue mußte durchschritten werden, sollte seine Erforschung gelingen. Daß diese weder harmlos noch ungefährlich war, weiß jeder, der an der Eroberung beteiligt war. Weder wurde die Erkenntnis auf geradem Wege errungen noch ging es ohne Störungen ab. Heute scheint es mir, als sei das Gebiet übersichtlich geworden, als sei die geheime Ordnung der Töne erlauscht.“ Mitten in diesem Reifeprozeß, dessen Resultat die 1934 fertiggestellte Künstleroper „Mathis der Maler“ ist, wurde Hindemith durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten überrascht. Einige Werke der Sturm-und-Drang-Zeit boten den erwünschten Vorwand zu immer neuen Angriffen und Diffamierungen durch die Parteipresse. Zwar gab es auch unter den Musikern einige, die Hindemiths Musik ablehnten. Aber das war schließlich eine interne musikalische Angelegenheit, in die sich der Staat vielleicht nicht eingemengt hätte, wenn Hindemith (der rein arischer Abstammung ist) bereit gewesen wäre, ein einziges Wort der Zustimmung zum neuen Staat und seiner kulturellen Führung zu sagen. Aber das tat er nicht, und so nahm die Tragikomödie des „Falles Hindemith“ ihren Lauf. In einem offenen Brief, der in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht wurde, trat damals Wilhelm Furtwängler mutig für den umstrittenen Komponisten ein und verwies darauf, daß unter den jüngeren Komponisten keiner für die Weltgeltung deutscher Musik mehr getan habe als Hindemith. Auch hob er Hindemiths „hohes Ethos schlichter Handwerklichkeit“ hervor, „das an altdeutsche Meister erinnert“. Aber es war alles vergebens: Goebbels hatte gesprochen, und Hindemith war ein „Entarteter“.

In den Jahren 1935 bis 1937 hielt sich Hindemith auf Einladung der türkischen Regierung mehrere Male länger in Ankara auf, um die Reorganisation des türkischen Musiklebens vorzubereiten. 1937, im gleichen Jahr als Hindemiths grundlegendes musiktheoretisches Werk, die „Unterweisung im Tonsatz“, erschien, das für eine ganze Generation deutscher Musik richtungweisend werden sollte, verließ der Meister Deutschland. Die nächsten beiden Jahre reiste er konzertierend und dirigierend durch Europa und Amerika. 1939 nahm er Wohnsitz in der Schweiz, 1940 emigrierte er nach den USA. Hier war er bis 1953 als Theorie- und Kompositionslehrer sowie als Leiter eines Collegium musicum an der Yale University in New Häven tätig. 1947 machte er seine erste Eurcpareise und wurde vor allem in Deutschland und Österreich lebhaft gefeiert. Seit 1950 ist er ordentlicher Professor an der Universität Zürich und seit 1953 auch in der Schweiz ansässig.

Bis zu seiner Emigration hatte Hindemith ungefähr 60 Werke geschrieben, unter diesen „Das Marienleben“ nach Rilke, dessen erste Fassung von 1922/23 in den Jahren 1936 bis 1948 völlig umgearbeitet wurde. (Wer sich vom hohen Ethos und der handwerklichen Gewissenhaftigkeit eines Künstlers unserer Zeit eine konkrete Vorstellung zu machen wünscht, dem sei das Vorwort der Neufassung zur Lektüre empfohlen.) So wurde diese Komposition zu einem Kristallisationspunkt in Hindemiths Schaffen, wie später, in den kritischen dreißiger Jahren, die große Bekenntnisoper „Mathis der Maler“ auf einen hochwertigen selbstverfaßten Text. Hier bringt der Komponist am Schicksal des Meisters Matthias Grünewald sein eigenstes Anliegen als Künstler und Mensch zum Ausdruck. Handlung und Musik gipfeln in einem visionären Bild (das den dritten Teil der Symphonie „Mathis der Maler“ bildet): Ein Teil der Bühne erglänzt in geheimnisvollem Licht. Mathis liegt in der Gestalt des heiligen Antonius auf dem Boden, und die Personen der Oper erscheinen dem gequälten Künstler als symbolische Gestalten: die Üppigkeit, der Reichtum, die Buhlerin, der Kriegsherr. Der Chor stürmt mit Dämonenstimmen und -gebärden auf Mathis ein. Aber auf dem Höhepunkt erlischt der Spuk; eine neue Landschaft breitet sich in sanftem Licht vor uns aus: es ist das Bild der Begegnung zweier Heiliger, ein Teilstück des Isenheimer Altarbildes. Der heilige Paulus tröstet den Verzweifelnden (und spricht zugleich die Selbsterkenntnis des Komponisten Hindemith aus): „Du bist zum Bilden übermenschlich begabt. Undankbar warst du, untreu, als du dreist / Göttliche Gabe verleugnetest. Dem Volk entzogst du dich, als du zu ihm gingst, deiner Sendung entsagtest ... / Geh hin und bilde!“ Es ist die These, daß Kunst und Künstler frei sein müssen und sich keiner weltlichen Gewalt beugen, keiner vorgezeichneten Richtung gehorchen dürfen. ........

Hindemiths Opus Americanum umfaßt mehr als 40 Kompositionen und gipfelt in einem umfangreichen Sonatenwerk (für alle wichtigen Soloinstrumente mit Klavierbegleitung), mehreren Balletten, Symphonien und dem Requiem nach Walt-Whitman-Texten. Von den nach der Rückkehr aus der Emigration geschaffenen Werken sind hervorzuheben „Apparebit repentina dies“ für gemischten Chor und Blechbläser, die Weinheber-Madrigale, ein Oktett und die Kepler-Oper „Harmonie der Welt“.

In den letzten Jahren hat sich Hindemith ein breites Hörerpublikum erobert — und sich zugleich die Gunst der „fortschrittlichen“ Fachkritik verscherzt. Ihr gilt er jetzt als zu konservativ, ja als reaktionär, weil er die neueste Entwicklung der Zwölftonmusik zur seriellen und elektronischen Musik nicht nur nicht mitmacht, sondern auch theoretisch bekämpft. - Vor bald zehn Jahren vertrat er in einem grundlegenden Vortrag in der Wiener Akademie für Musik die Ansicht, daß es auf dem Gebiet der Harmonie und Melodie heute nichts Neues mehr zu entdecken gebe. Dagegen sei das Gebiet des Rhythmus weitgehend unerforscht. Hier hätten die Theoretiker noch sehr viel zu tun, aber an diese offenbar schwer zu knackende Nuß wolle niemand recht heran. (Anscheinend hat Hindemith damals die Abhandlungen und Kompositionen von Olivier Messiaen noch nicht gekannt.) Die wesentliche — weil moralische — Frage aber ist für Hindeiith: Was muß der Komponist tun, um sein Material (Melodik, Harmonik, Rhythmik) zur Wirkung zu bringen und den Hörer zu berühren? Hier gelte es, sich auf das Ethos der großen Künstler seit der Antike und während des Mittelalters zu besinnen, die ihr Handwerk von Grund auf beherrschten und sich verantwortlich fühlten für das, was sie schufen. Heutzutage dagegen, meint Hindemith, könne ein Komponist auch auf andere Weise zum Erfolg kommen: wenn er auf Sensationen ausgehe, durch alle möglichen Tricks Originalität vortäusche, sich politisch binde oder nur nach seinem persönlichen Geschmack schreibe. „Oft wird dann eine spezifische Art des Nicht-könneris als kompositorische Eigenart hingestellt.“ Für den ethisch verantwortungsvollen Musiker ist demgegenüber Komponieren keine bloße Spielerei; er schreibt nicht zu seinem eigenen Vergnügen, sondern sieht in der Musik einen höheren Zweck. Er schreibt für bestimmte Menschen, um sie zu erheben. Da andere Leute seine Musik hören sollen, darf er nicht schreiben, was er selbst nett findet, sondern muß herausfinden, was seine Hörer bewegt... Daß der Komponist beim Schreiben nicht einfach auf seine eigene Befriedigung bedacht war, ist dem Ausdruck seiner Musik nicht abträglich. Gerade das Gegenteil trifft zu: „Wenn er an seine Spieler und Hörer, an den Zweck seiner Musik denkt, gibt ihr das den besseren, reineren Ausdruck.“

Mit solchen Äußerungen stellt sich Hindemith nicht nur in Gegensatz zu vielen führenden Komponisten, etwa zu Schönberg („Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen“), sondern auch zu großen Ausdruckskünstlern der Vergangenheit (Beethoven: „Ich will nur noch schreiben, was mich freut... Wer's nicht greifen kann, läßt's bleiben!“). Trotzdem will Hindemith keineswegs der Rationalisierung oder gar einer soziologischen Bedingtheit des künstlerischen Schaffens das Wort reden. Auch er läßt den Schaffensprozeß, die Inspiration, in gebührendem Dunkel. Auch für ihn steht am Anfang die „Vision“ des zu schaffenden Werkes, eine allgemeine, vage Vorstellung, ein Geschenk der Gnade, das freilich zu seiner Realisierung der Hand eines Meisters und der vollkommensten technischen Mittel bedarf.

Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß an den entscheidenden Zäsuren in Hindemiths Künstlerleben immer wieder religiöse Themen aufscheinen. Wir erwähnten das „Marienleben“ und „Mathis der Maler“. Unmittelbar nachdem er seine Heimat verlassen hat, beginnt er die Partitur zu „Nobilissima Visione - Tanzlegende in elf Szenen aus dem Leben des heiligen Franziskus“ und, nach Europa zurückgekehrt, schreibt er sein „Apparebit repentina dies“ und die ..Weihnachtsmotetten“.

Seinen 65. Geburtstag begeht Paul Hindemith in Wien: mit Proben für die konzertante Aufführung seiner letzten Oper „Die Harmonie der Welt“, die — wie der Komponist erklärt — „vom Leben und Wirken Johannes Keplers handelt, der ihn fördernden und hindernden Zeitereienisse und dem Suchen nach der Harmonie, die unzweifelhaft das Universum regiert“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung