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Metamorphose einer Stadt

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Lange Nächte üben auf literarische Ereignisse im kulturellen Veranstaltungskalender offenbar große Faszination aus. Während die „Nightevents" rund um Hörspiele und Kürzestgeschichten auf eine noch relativ kurze Vergangenheit zurückblicken können, jährt sich heuer die Lange Nacht der Märchenerzähler bereits zum zehnten Male.

Die Idee, Märchenerzähler aus aller Welt zusammenzuholen und dem Publikum ein nächtliches Erzählerlebnis der besonderen Art zu bieten, stammt vom österreichischen Märchenautor Folke Tegetthoff. Anläßlich des Veranstaltungsjubiläums wollte der heute in der Südsteiermark beheimatete Künstler mit etwas Neuem aufwarten: Er kreierte und initiierte das Kunstfestival „Graz erzählt", das künftig neben dem Steirischen Herbst und der styriarte zum dritten kulturellen Fixpunkt der steirischen Landeshauptstadt werden soll. Noch bis 19. Mai 1997 taucht Graz in die Welt des Märchens ein und wird zu einer riesigen Erzähl- und Phantasiebühne für Erwachsene und Kinder. Erzähler aus elf verschiedenen Nationen, Musiker, Jongleure und Künstler aus den Bereichen des Puppentheaters oder der Pantomime sind eingeladen. Schon seit Monaten wird kräftig die Werbetrommel gerührt und mit enormem Aufwand die mediale Vermarktung dieses Ereignisses vorangetrieben.

Die Installation der Märcheninfrastruktur für das Phantasiefest mutet fast manieristisch an; haarscharf an der Grenze zum Kitsch zeigt sie sich als Reise in die heile Welt der Kinderträume. Mit Hilfe zahlreicher Sponsoren wollen die beiden künstlerischen Leiter von Graz erzählt, Anne und Peter Knoll, die Stadt durch das Schaffen märchenhafter Imaginationsräume buchstäblich einer Metamorphose unterziehen. Dazu gehören Erzählfahnen vor geschichtsträchti-gen Häusern und Kunstobjekten oder künstlerisch gestaltete Erzählthrone an zentralen Plätzen der Innenstadt, die Kinder zur Präsentation eigener Geschichten animieren sollen. Die Grazer Herrengasse wird - von zahlreichen Märchenpulten gesäumt -zur Lesestraße, in der der Erzählakt öffentlich inszeniert und erlebbar gemacht wird, zusätzlich unterstrichen durch das Auftreten der Fanfarenbläser zu jeder vollen Stunde, die das Umblättern der Märchenbücher signalisieren.

Für Kinder wird in eigens dafür aufgestellten Telefonzellen eine kostenlose Märchenhotline installiert. Auch der Fluß der Murmetropole erhält eine besondere Funktion, indem er zum Erzählraum für Flußgeschichten mutiert, die in Styroporschiffchen auf die Reise geschickt werden. Rund 20 internationale Künstler, wie beispielsweise Huda Al-Hilali, Jacqui Chan, Susan Klein, Radha Anjali, Diane Ferlatte oder Michael Parent, werden in sechs „Langen Nächten der Märchenerzähler" an verschiedenen prominenten Schauplätzen Geschichten und Musik für Erwachsene präsentieren.

Diese äußere Stadtverwandlung soll Impuls für ein Innehalten sein, um Erzählen, Zuhören und Verstehen wieder neu zu lernen. Früher gehörte das Erzählen zum Alltag der Erwachsenen. Märchen sind abgesunkene Mythen, heißt es bei den Rrüdern Grimm, und haben etwas mit der menschlichen Lebenspraxis zu tun. Rituelles Erzählen erfolgte an Winterabenden beim Spinnen und Weben, bei Feldarbeiten oder anderen handwerklichen Tätigkeiten. Sogar heute gibt es im Orient noch Märchenerzähler, die ihre Geschichten auf belebten Marktplätzen oder in orientalischen Cafes öffentlich darbie-ten. Aus dem orientalischen Kulturkreis stammt auch ein Märchenbuch, in dem das Erzählen zum Movens für das Überleben wird. Die Rede ist von Scheherezad, der Tochter eines orientalischen Wesirs, die es schafft, König Schahriar so in den Rann ihres Erzählens zu ziehen, daß er ihr nach 1.001 Nächten schließlich das Leben schenkt. „Scheherezad erzählt um ihr Leben, ja wider den Tod. Ihr Erzählen hält vom Töten ab, indem sich beim Zuhören das Mordenwollen verschlägt", bringt es die Autorin Barbara Frischmuth auf den Punkt. Er zählen tritt in diesem Beispiel gegen Gewalt und Macht an und zeigt sich als neuentdeckte Lust an Kreativität und Imagination.

Diese Kraft des Erzählens hat heute an Bedeutung verloren und muß erst wieder neu aktiviert werden. Ziel dieses Erzählfestes ist daher die ReSensibilisierung der Menschen für das Zuhören, das für Tegetthoff die Grundvoraussetzung für eine gelungene Kommunikation darstellt. Seelische Verwahrlosung der Kinder und übermäßigen Medienkonsum führt der Märchenerzähler auf die wachsende Unfähigkeit zur Kommunikation zurück. Die Erwachsenen haben die • Kultur des Erzählens und Zuhörens verlernt und seien daher auch nicht mehr in der Lage, diese Kunst an ihre Kinder weiterzugeben. Tegetthoff sieht im Geschichtenerzählen die Chance, feine Fäden zwischen den Menschen legen zu können. Denn das Märchen ist für ihn keine Traumwelt, sondern „Sehnsucht nach der Wirklichkeit, ein Seelenbild des Menschen, das andere Dimensionen unseres Lebens eröffnet. Es ist die Beschreibung einer ganz bestimmten Atmosphäre, eine Erinnerung an unsere Kindheit."

Informationen und detaillierter Programmabltut/: Grazer Tourisrnushüro, Kaiserfeldgasse 15/4, 8011 Graz

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