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Mit den Augen der Jugend gesehen

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Es hatte die Wirkung eines Alarmschusses, als vor fast zwei Jahren im Nationalrat die politische Teilnahmslosigkeit und die gänzliche Gleichgültigkeit der österreichischen Jugend Staat und Vaterland gegenüber zur Debatte stand. Eine Welle von Besprechungen und Befragungen ging von der höchsten Unterrichtsbehörde bis zur letzten Schule, und über die Probleme der staatsbürgerlichen Erziehung und über die Weckung initiativer Liebe zu Heimat und Vaterland wurden kluge Worte gesprochen und weise Richtlinien gegeben.

Mitten hinein in die Lösung dieser Erziehungsfragen stellt sich ein Unternehmen der Abteilung Jugend des Unterrichtsministeriums, das seit Februar des Jahres das Jugendheim in Hadersdorf-Weidlingau bei Wien zu dem Zwecke verwendete, Jugend aus allen Bundesländern auf eine Wodie nach Wien zu laden und sie mit Wien und seinen Schätzen an Geschichte und Kultur bekannt zu machen. Bedeutende Vorträge, Führungen durch Wiens Kunstdenkmäler und historische Stätten, Abende in Theater, Oper und Konzert, Besuche in Betrieben und Schulen, in Kaufhäusern und Spitälern sollten der österreichischen Jugend zeigen, wie reich dieses arme, kleine Österreich ist, wie berechtigt stolz man auf dieses Herzstück der europäischen Kultur sein dürfe und welche

Verpflichtungen aus einem solchen Kulturerbe seiner begabten und lebensfrohen Jugend erwüchsen.

Nachdem die Finanzierung dieses Unternehmens durch das Unterrichtsministerium so großzügig gelöst worden war, daß die Ausgaben nicht mehr als siebzig Schilling für die ganze Woche mit Verpflegung, Unterkunft, Straßenbahnfahrten, Führungen und mindestens einem Theater- und Konzertbesuch betragen sollten, ergingen die ersten Einladungen an die berufsbildenden Schulen männ-lidier und weiblicher Richtung. Rasch kamen die Anmeldungen, fast allzu rasch, und die zaudernden Schulen hatten bald das Nachsehen. Das Heim war schon im März bis Ende 1951 vergeben. Als nun die Abteilung Jugend im Bundesministerium für Unterricht noch das Jugendheim in der Kuffnerstraße für seine Zwecke gewann, reisten allwöchentlich 80 junge Menschen, zumeist junge Mädchen im Alter von 16 bis 20 Jahren, erregt und erwartungsvoll aus allen Bundesländern nach Wien.

Welche Eindrücke die Jugend hier gewann — darüber soll sie selbst zu Worte kommen.

Da ist zunächst die Millionenstadt, die die jungen Schülerinnen staunen macht — Hochbauten und Verkehr, Geschäftsviertel und Ringstraße.

Charakteristisch ist es, daß auf die kühlen, verhaltenen Vorarlbergerinnen die Liebenswürdigkeit und Höflichkeit der Wiener tiefen Eindruck machte; ja einen so nachhaltigen Eindruck, daß die Siebzehnjährigen, aus Wien zurückgekehrt, nach dem Zeugnis ihrer Lehrerinnen, in Schule und Internat weicher, liebenswürdiger und anschmiegsamer geworden sind. Recht drastisch schreibt eine Grazer Maturantin: »Wien kenne ich jetzt von einer anderen Seite; nicht so, wie es bei uns auf dem Lande immer hieß: ,Der ausgehungerte Wiener kommt schon wieder hamstern“, sondern ich kenne jetzt den schwer arbeitenden und doch fröhlichen Wiener. Niemals werde Ich über diese Stadt ein unschönes Wort sagen.“

Von den Kunstwerken und Baudenkmälern Wiens wird der Stephansdom am öftesten genannt, „vor dessen Majestät und Herrlichkeit man am liebsten niederknien möchte“ i dann Belvedere, Schönbrunn und das Rathaus. Vielen Inns-bruckerinnen ist das beleuchtete Rathaus der Wiener Festwochen der stärkste Eindruck, den sie aus Wien mitgenommen haben. Doch ist es interessant, daß auch Einzelheiten liebevoll genannt werden: die Kanzel des Stephansdoms und der Prunksaal der Nationalbibliothek mit seinen Deckengemälden, die Halle des Kunsthistorischen Museums und das „Letzte Abendmahl“ in der „stillen, verträumten Minoritenkirche, die wie eine Insel inmitten der verhasteten Stadt liegt“; das Christinendenkmal in der Augustinerkirche „mit seiner Ergebung in Leid und Tod“. Und zu alldem wissen die gelehrigen Mädchen Baumeister und Bildhauer und Maler zu nennen, alle die großen österreichischen Namen. Eine Villacherin hat auch die Brueghel-Bilder in ihr Herz geschlossen, eine andere aus Reutte die Gobelins. Freilich, als die Haushaltungsschülerinnen von Reutte daheim erzählen, daß sie im Kunsthistorischen Museum wunderbare Dinge bei ihrer halbtägigen Führung gesehen hätten, da fügen sie auch ihrem aufrichtigen Schulaufsatz hinzu, daß die Eltern wohl gemeint hätten: „Ja, dovo har.d die Mädla sicher nix verstände!“ und das Mädchen unterstreicht den empörten Widerspruch und zählt nur so her, was es da alles zu sehen gab.

Dabei übersehen die jungen Reisenden auch tieferliegende Dinge des Alltags nicht. Es fällt ihnen auf, wie viele Menschen „morgens zur Arbeit eilen“ und daß „abends die Straßenbahnen überfüllt sind mit müden Menschen“. Eine besinnliche Innsbruckerin denkt noch weiter und meint, daß „diese geplagten Menschen wohl zumeist in einer der engen Wohnungen in den riesengroßen Häusern wohnen“ und daß sie „keinen Garten vor dem Haus“ und „keine Sicht auf Berge“ haben. Sie glauben, Menschenkenntnis gewonnen zu haben, da sie in ähnlichen Schulen Schülerinnen mit ganz verschiedenem Benehmen angetroffen haben, liebenswürdig die einen, arrogant die anderen.

Was sagt aber die Jugend über den Zweck, der der Unterrichtsverwaltung bei dieser Aktion vor allem am Herzen lag? „Erst als ich persönlich durch die Straßen Wiens wandern durfte, bin ich mir der Größe, Pracht und Vergangenheit des alten Österreich bewußt geworden. Ich habe eine Ahnung bekommen von seinem Reichtum, seinem künstlerischen Schaffen und seinem kulturellen Niveau. Und all das beginnt man als junge Generation einer großen Vergangenheit gegenüber als Verpflichtung für die Zukunft zu empfinden“, schreibt eine Schülerin der Bundeslehranstalt für Frauenberufe in Villach. Oder: „Meine Einstellung zu Wien und Österreich hat sich in dieser Woche stark geändert, der Gedanke an Wien ruft in mir eine Verbundenheit hervor, die ich früher nicht kannte ... Wien ist für uns alle ein nicht wegzudenkendes Stück Heimat geworden.“ Die Linzerinnen konstatieren: „Ich war der Ansicht, daß von Wien zuviel geredet und daß diese Stadt zvjviel gepriesen wird; jetzt weiß ich es besser. Ich bin stolz, Österreicherin zu sein und mich auch dieser unserer Hauptstadt rühmen zu können.“ Eine Bre-genzerin: „Ich habe jetzt mit eigenen Augen gesehen, daß das Leben in Wien nicht nur Wein und Tanz und Spiel ist, sondern daß Wien eine arbeitende Stadt ist...“ Eine andere Vor-arlbergerin: „Nach meiner Meinung besteht der beste Wert dieser Woche darin, daß ich Wien und somit dem ganzen Vaterland nähergekommen bin. Ich habe Wien kennengelernt als Grenze, als Pforte, als Brücke, als Leuchte, als Heimat und als das Herz Österreichs. Ich habe den Wiener, sein Wesen, seine Kunst und seine Musik lieben gelernt.“ Und eine Tirolerin aus Reutte: „Früher kannte ich Wien nur von der Seite des Glanzes. Jetzt lernte ich die Wiener auch bei der Arbeit kennen. Sie müssen ihr Brot ebenso hart verdienen wie hier die Arbeiter.“

Vielen Mädchen war die Woche in Wien auch ein starkes Gemeinschaftserlebnis. Eine Ebenseerin meint: „Durch das herrliche Zusammenleben im Bundesheim lernten wir uns kennen und verstehen. Wir waren auf uns selbst angewiesen, jede bemühte sich, mehr Verständnis als sonst für die andere aufzubringen. Man wurde rücksichtsvoll und hilfsbereit, so daß wirklich eine edle Kameradschaft entstand, die ihre Bande nicht mehr lösen kann.“

Um das Bild abzurunden, sei noch am Rande erwähnt, daß sich die begeisterte Stimmung der jungen Wienentdecker in rührenden Beweisen der Dankbarkeit gegenüber den Schöpfern und Förderern der Aktion entlud. Und da sage man noch, unsere Jugend sei teilnahmslos, ohne Initiative, ohne Schwung, ohne Begeisterung! Es handelt sich ja doch immer nur darum, den rechten Anruf für sie zu finden. Und einen solchen Anruf, der unsere Jugend mit dem Herzen aufhorchen macht, den haben die Veranstalter mit ihrer Wiener Woche für die Jugend aus den Bundesländern gefunden. „Wien war das Erlebnis für uns!“ ruft eines der jungen Mädchen aus. Wir Pädagogen aber wissen, daß wir alles, was der Jugend unverlierbarer Besitz werden soll, was wir ihr als Wert im besten Sinne des Wortes ins Herz legen wollen, rhr nur durch das Erlebnis geben können.

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