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Moderne Kunst und Graphik

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Das Experimentierfeld der Malerei ist die Basis der modernen Graphik.

Die Malerei hat dank ihrer freien und nicht- limierten schöpferischen Möglichkeiten das Erstgeburtsrecht der bildnerischen Ideen. Vermöge dieser Eigenschaft stellt sie ein hervorragendes Feld zur Darstellung einer Weltanschauung, einer Situation, einer Veränderung des Weltbildes und eine geistige Manifestation überhaupt dar. Mögen dem Pionier die Ausdruckswerte, die philosophischen Zusammenhänge und die Bedeutung seiner Arbeit nicht bewußt sein, so ist er dennoch das Instrument, ein Seismograph einer Epoche und einer Lebenssituation im großen Maßstab. Damit kann die künstlerische Tat einzelner eine Manifestation der Wirklichkeit oder des Zukünftigen darstellen. Mit einer solchen ersten Ranges haben wir es bei der Epoche des Kubismus zu tun.

Mit dem Kubismus eröffnet sich eine neue künstlerische Konstellation. Die im Impressionismus noch vorhandene perspektivische Raumauffassung und klassische Ordnung der Umwelt wird aufgehoben. In den Bildern der Jahre 1908/09 manifestieren die lapidaren Formballungen die neue Raumauffassung. 1910 verändern sich die Körper- und Raumballungen zu einer Strukturierung. Die plastisch und expressiv wirkenden großen Bildformen reduzieren sich zu kurzen strich- und sichelförmigen Pinselstrukturen.

Eine Analyse dieser Kunstrichtung könnte zu folgender Definition führen: Der Charakter der kubistischen Gestaltungsweise ist ohne Zweifel revolutionär im Sinne einer neuen Raumanschauung und bildnerischen Ausdrucksform. Wichtig ist hierbei die Feststellung, daß die Pioniere des Kubismus den Neubau des Bildes mit ausschließlich malerisch-konstruktiven Mitteln vollziehen mußten und nur diese Bildteile einen reinen essentiellen Wert besitzen, die Montageelemente dagegen Erzeugnisse des Zufalls sind. Eine Analyse der Schriftformen, del Zeitungsausschnitte, der Etiketten, der Papiers peints wie überhaupt des gesamten, graphischen Materials führt zur Feststellung . daß- diese : eben dadurch, daß es dem „Tag” entnommen wird teilweise den Charakter des Massenkitsches trägt. Die neue Form der Komposition mußte mit den’ traditionellen Elementen durchgeführt werden. Allgemein sind es die Elemente der harten und unsentimentalen alltäglichen Lebenswirklichkeit des schöpferischen Menschen, wie die Mansarde, das Atelier, die Massenwohnung. Das Vokabular der Elemente wechselt hierbei vom griechischen Mäander bis zum Rudiment einer Türfüllung mit der Lilie des Sonnenkönigs, doch ist deren formale Verwendung durchaus konsequent, kühn und einmalig. Die Herkunft des Prinzips der modernen Graphik ist unverkennbar. Mit der Geburt der Montageform in der freien Kunst entsteht das Vokabular der Graphik unserer Zeit.

Der Einfluß der neuen Bildstruktur auf die nachfolgende Entwicklung ist von größter Bedeutung und Wirkung. Nicht nur die Graphik, auch die Architektur, das Bühnenbild werden unmittelbar beeinflußt.

Wenn die Entstehung der Collages von besonders wichtiger Bedeutung für die Entwicklung der modernen Gebrauchsgraphik ist, so hat die lapidare Form Legers ebenfalls in einem bestimmten, wenn auch beschränkten Maße Anteil an einem richtunggebenden Einfluß. Trotz der elementaren Formensprache Legers, der geballten Kraft seiner Kompositionen und der gegenwartsnahen Bejahung des Ausdruckes und der Realität der technischen Zivilisation ist eine direkte Beziehung Legers zur Graphik nur in Frankreich festzustellen.

Ein starker geistiger Einfluß erfolgte später durch den Purismus Ozenfants und Le Corbusiers. Der mit sparsamen, asketischen Mitteln arbeitende Flächenstil des Purismus enthielt alle Voraussetzungen für eine positive Ausstrahlung. Die auf’ horizontale und vertikale Richtungen ausbalancierten Formen von Flaschen, Krügen. Gläsern und anderen Objekten, sparsam und konsequent in der Anwendung, wären hervorragend geeignet gewesen, über Frankreich hinaus einen neuen Stil in der Graphik zu realisieren. Ohne direkte Bezugnahme und ohne eine unmittelbare Wirkung in die Breite hat die puristische Doktrin der Klarheit und Logik dennoch einen bedeutsamen geistigen Einfluß ausgeübt.

Im Gegensatz zur klassisch geprägten Typographie Frankreichs, die selbst in den Collages wirksam bleibt, ist im italienischen Futurismus, der 1909/10 begann, eine völlig andere Auffassung des Wortes, des Uebermittlungsbegriffes überhaupt vorhanden. Das Wort, der Buchstabe ist ein Manifest, ein Fanal, eine Fackel. Eine radikale Diagonalität zerschneidet den Raum des Plakates, des Buchumschlages, des Flugzettels. War die Typographie des Kubismus im wesentlichen eine solche der klassischen Antiquaformen unter ausschließlicher Verwendung von Versalien, so bestimmten in der futuristischen Typographie der Wechsel von Schrifttyp, Größe und Dicke der Buchstaben, die Vergrößerung von Kleinbuchstaben zur Größe von Versalien das Schriftbild. In synkopischem Rhythmus hämmern die Schriftzeichen die Lebensauffassung der futuristischen Doktrin. Ohne Zweifel ist diese Form der Typographie neu Zum erstenmal entsteht hier etwas völlig Unklassisches, das Wort, der Buchstabe wird zu einem direkten, expressiven Formelement.

War der Futurismus flatternde Fahne, Vorbote und Ausdruck einer auf politische Veränderung zielenden Bewegung, in ihrem Gehalt und in ihrer Form die Katastrophe kündend, so stellt der Dadaismus trotz bestimmter äußerer formaler Analogien den stärksten Gegensatz zu den willensgerichteten literarischen und nationalistischen Thesen des Futurismus dar. Wenn auch die negative Grundeinstellung zur Ordnung der Zivilisation bei beiden Bewegungen ähnlich wirksam ist, so ist der Dadaismus Ausdruck einer expressiven Ironie und eines schockierenden beispielgebenden Symbols des Unsinns dieser Welt. Mit seinen Manifestationen wollte der Dadaismus dem Bürger zeigen, daß sein Leben keinesfalls vernünftig ist. In einem neuen Sinne wirklichkeitsgerichtet und in einer ironischen Relation zur Umwelt stehend, verwendet der Dadaismus in seinen bildnerischen Ausdrucksformen die verachteten und grotesken Erzeug nisse dieser Welt: Trambillette, Streichholzschachteln, Gummi, Holz, Röhren, Draht, Pak- kungen, Sand. Die Abfälle des Bauplatzes, des Papierkorbes und der Straße werden gültiges Baumaterial zur ironischen Verachtung der gewohnten Kunstübung wie aber auch zur Erzielung eines neuen bildnerischen Ausdrucks. Im Gegensatz zur futuristischen Malerei, welche fast ausschließlich groteskerweise die Farb- materie der verachteten Leonardo, Michelangelo, Giotto usw. verwendet, steht der Dadaismus in seinen materiellen Symbolen in einer Symbiose mit dem Kubismus. Mehr jedoch als in den Collages sind die Wortfragmente gleichzeitig Mitteilung an den Betrachter, der dazu erzogen wird, zu begreifen, daß die sogenannte schöne Materie keinesfalls allein die Kunst macht.

1913 entsteht Malevichs berühmtes schwarzes Quadrat auf weißem Grunde. Von diesem Quadrat könnte man sagen, daß von hier aus der Suprematismus seinen Anfang genommen hat. Malevich sagt: „Das schwarze Quadrat auf dem weißen Feld war die erste Ausdrücksform der gegenstandslosen Empfindung: Das Quadrat = die Empfindung, das weiße Feld = das „Nichts” außerhalb dieser Empfindung. Unter Suprematie verstehe ich die Suprematie der reinen Empfindung.”

Diese letzte These stellt in gewisser Weise eine Verbindung mit Mondrian her. Der grundlegende Unterschied der beiden Ausdrucksformen liegt jedoch in den Bildelementen und der Bildorganisation selbst. Malevich geht im Gegensatz zur Bildteilung Mondrians von den Elementen aus, welche direkte Träger der Empfindung darstellen sollen. Wesentlich für den Suprematismus ist die Darstellung des Gefühls einer Bewegung des Fluges und des Dynamischen als Ausdruck der modernen Welt. Die Welt von oben und die Elemente des Fluges sind die Landschaft Malevichs und die inspirierenden Elemente für den Suprematisten.

Anders als beim Futurismus, der die neue technische Welt als explosive Kraft begreift, sind bei Malevich die Elemente von asketischer Einfachheit und Größe. Den Formen der Elemente entsprechend, die meistens durch Teilungen von Einheiten gebildet werden, ist die Bildform. Mit äußerster Anspannung wird versucht, der Empfindung eines Bewegungsgedankens Ausdruck zu geben und die Elemente mit stärkster Konzentration auf der Fläche zu organisieren.

In das Jahr 1919 fällt die Gründung des Bauhauses in Weimar durch Gropius. Damit bereitet sich erstmals eine Auswertung und Synthese der durch den Konstruktivismus, den Neoplastizis- mus, den Stijl und den Dadaismus erreichten geistigen und künstlerischen Standorte vor. Das Bauhaus sah eine wesentliche Aufgabe darin, die neuen künstlerischen Erkenntnisse in eine klare begriffliche Form zu bringen und dadurch praktische pädagogische Ziele zu erreichen. Das neue Formvokabular, welches durch die einzelnen geschaffen worden war, sollte in einer systematischen Analyse verarbeitet zu einer realen, anwendbaren Pädagogik führen. Nicht um den Spezialisten im Sinne des Akademischen zu bilden, sondern um dem Lernenden eine möglichst weite und umfassende Erkenntnis der schöpferischen Möglichkeiten der Zeit zu vermitteln. In gleicher Weise wie die künstlerischen Bewegungen in ihrer Methode erfaßt werden sollten, so sollten auch alle anderen Gebiete, wie Architektur, Photographie, Film, Theater, Gebrauchsgeräteformung beeinflußt werden. Darin liegt die eine entscheidende pädagogische Tat des Bauhauses.

Das eigentlich einmalige Ereignis war die Hinzuziehung von Feininger, Itten, Klee, Schlemmer, Kandinsky, Moholy und Albers. Zum ersten Male konzentrierte sich ein Teil der künstlerischen Elite Europas gemeinsam in einer Schule zur pädagogischen Vermittlung ihrer eigenen individuellen Erkenntnisse. Die Wichtigkeit einer solchen Konzentration schöpferischer Kräfte ersten Ranges kann in ihrer Auswirkung nicht hoch genug bewertet werden. Der Versuch, den Lernenden eine Analyse und praktische Anwendbarkeit des Theoretischen zu vermitteln, ist für die schöpferische Elitebildung Europas heute noch von Bedeutung. Diese Wirkung ist ab 1925 überall festzustellen Das Ziel des Bauhauses war, die künstlerischen Kräfte aus ihrer Isolierung herauszureißen, nicht um sie zu popularisieren, sondern um ihre Arbeitsmethoden in der kommenden Generation der schöpferisch Tätigen zu verankern und zu vertiefen. Das Ziel bestand in einer Synthese, einer njöglichst engen Zusammenarbeit von Formerkenntnis und praktischer Ausbildung. Im Grunde war es das alte, ewig aktuelle Ziel der Bauhüttenmeister des Mittelalters zeitgenössischen Graphik: lassen sich folgende wesentliche Einflüsse feststellen.

Die geistige Gegenwart des Neoplastizismus, der Stijl-Bewegung und der konkret-konstruktiven Kunst übt einen unmittelbaren und anhaltenden Einfluß auf die Typographie und Graphik unserer Zeit aus.

Die Formdisziplin, welche zu einem absoluten Ausdruck drängt, prägt auch in den gebundenen Künsten den Stil dieser Zeit. Kein schöpferisch Tätiger vermag sich der Forderung, zum Essentiellen eines künstlerischen Ausdrucks vorzustoßen, zu entziehen. Die Verbindung des Analytischen mit dem Gefühlsmäßigen ergibt eine Basis, auf der nur ja oder nein gilt.

Ebenso bedeutsam ist der Einfluß des Konstruktivismus, welcher durch seinen flexiblen Flächenstil, die Relativität der Dimensionen und Massen, die Möglichkeiten expressiver Diagonalbeziehungen, dem graphischen Gestalter. ein enormes Feld anwendbarer Anregung bietet.

Das Spiel der Elemente, die Verbindung von Rechteck- mit Kreis- und Ovalformen, die die Formensprache des Konstruktivismus bilden, ergibt unendliche praktische Möglichkeiten der Kombination in der Graphik. Die Formelemente, die bei größter Dimensionsfreiheit ein eminentes Maß an Ausdruckskraft besitzen, verbunden mit der dokumentarischen Photographie, bilden den heutigen Stil der Graphik. Dieses Arsenal von ordnenden, richtunggebenden, trennenden, beziehungsreichen Elementen bildet zusammen mit der Realität des Werbebildes den Ausdruck und die Basis der konstruktiven Graphik. Ein Instrumentarium, welches etwa seit 1925 im besonderen Maße von der Zürcher Schule angewendet wird, welche als der eigentliche Entstehungsort dieses Stils von Werbegraphik angesprochen werden muß. Die grundlegende Arbeit der Zürcher Schule der lahre 1925 bis heute hat sich als eine außerordentliche und sichere Basis für die heutige Graphikergeneration erwiesen.

Ohne Zweifel ist deshalb die progressive Graphik eine legitime Erbin der künstlerischen Avantgardebewegung. In ihren besten Zeugnissen ist sie mit denjenigen Ausdrucksformen verbunden, die von einer ästhetisch-moralischen Evolution des Menschen überzeugt sind und an eine solche durch ihre klare Haltung und Ueber- zeugungsbereitschaft appellieren.

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