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Moderne Kunstströmungen in Frankreich

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Frankreich ist heute noch“ oder wieder einer der Eckpfeiler abendländischen Kulturschaffens. In Mitteleuropa mag man dies noch nicht so sehr empfinden, obwohl die französischen Kunstausstellungen in Wien und in Berlin, die französische Buchausstellung in Innsbruck und ähnliche Veranstaltungen auch außerhalb der französischen Besatzungsgebiete bereits manch wertvollen Einblick gegeben haben. In Westeuropa merkt man jedoch auf Schritt und Tritt die führende Rolle, die Frankreich im Kunst- und Geistesschaffen Europas erneut zu spielen berufen ist. Diese Bedeutung hängt nidit von der politischen Funktidh des französischen Staates ab, die heute noch keineswegs klar umrissen ist. Gerade dies bringt den Österreicher, vor allem den Wiener, dem* Franzosen näher. Denn Österreich ist ebenso wie Frankreich nicht auf politische Wirkmöglichkeiten angewiesen, um geistig und kulturell wirken zu können. Während aber Österreich heute noch kein Tor seines Geistes in die Welt hat, ist Frankreichs Stimme allen Ländern des Westens! von der Schweiz angefangen, aber auch dem ganzen Mittelmeerbereich einschließlich Ägyptens, neuerdings auch wieder den| südamerikanischen Kontinent und Teilen Nordamerikas, vernehmlich geworden, während man umgekehrt in Paris die geistigen Repräsentanten .all dieser Länder in großer Zahl antreffen kann, die nichts anderes wollen, als wieder den Hauch echter Kultur zu atmen, den ihnen die angelsächsische Welt nur in unvollkommener Weise, wenn überhaupt, vermitteln kann. Mit einer gewissen Wehmut muß man als Österreicher feststellen, wie entscheidend sich auch im geistigen Bereich rein materiell-technische Gegebenheiten auswirken, wie etwa die durch Visaschwierigkeiten kaum berührte leichte Reisemöglichkeit zwischen den Ländern Westeuropas einschließlich des vollkommen friedensmäßigen Bahnverkehrs und der trotz des „mardie“ noir“ für jedermann befriedigenden Ernäh-rungslag|e in Frankreich.

Während die musikalischen und Theateraufführungen in Frankreich (und nicht nur in Paris) ihr hohes Niveau beibehalten haben, mit dem einzigen erfreulichen Unterschied vielleicht, daß gegenüber der Zeit vor 1940 alles dezenter und in seiner ethischen Grundhaltung sauberer geworden ist, ist die b i 1-dende Kunst doch ein Spiegelbild der tiefen Krise, die Frankreich auf fast allen Gebieten seines nationalen Lebens durchlebt. Einander durchkreuzend aufhebende Kunst auffassungen treten schroff hervor. Man wird allerdings auch hier, selbst bei den11 extravagantesten Ausstellungsobjekten, die Beobachtung machen, daß gegenüber der Zeit zwischen den zwei Kriegen das Bemühen um Sauberkeit an Nachdruck gewonnen hat. Man darf feststellen, daß nicht einmal in juryfreien Ausstellungen Anklänge an laszive Gestakungen zu finden sind, wohl aber nicht wenige religiöse Motive. Doch finden wir derart viel Überspanntheiten, die oftmals künstlerischem Unvermögen bedenklich nahe sind, daß darin Gefahren ruhen. Die Gefahren sind vor allem in der Tatsache zu erblicken, daß das Ausland, das sich heute an französische Kunstvorbilder hält, oft nicht das bewährt Gute einer traditionsgebundenen französischen Kunst — die es in reichem Maße gibt — für nachahmenswert hält, sondern um des Neuen willen ojene Strömungen, die man gerne mit dem im Grunde nichtssagenden Wort Surrealismus benennt. Die Rückwirkungen in Ägypten, Chile, Argentinien und auch in der Schweiz beweisen dies. In der Schweiz zum Beispiel haben die Werke von Utrillo, M atisse und'Picasso in den führenden Zeitschrif ten, endlose Debatten, durchwegs aber im Sirine einer begeisterten Aufnahme, ausgelöst.

Damit haben wir die maßgeblichen Ver treter modernster französischer Kunstströmun gen genannt, die heute in aller Munde sind, mögen diese Künstler selbst auch schon zieroh... bejahrt sein. Die Auffassung dieser

Maler, etwa eines Picasso, wird etwa damit umschrieben, daß es die Aufgabe des Künstlers sei, die geistige Situation der Zeit wiederzugeben. Diese aber ist chaotisch, dekadent und Ausdruck völliger Auflösung aller Werte. Man könnte, so meinen diese Meister, geradezu Nihilist sein, denn unsere Entwicklung führe direkt zum nihil, zum Nichts. Daher malt Picasso, Raoul Urac, Bredeche einen menschlichen Körper oder ein Pariser Cafe“ oder eine Kleinstadt nicht als eine geschlossene Einheit, sondern löst sie auf. Ob die Auflösung dabei soweit geht, daß wie bei Uracs Porträts die einzelnen Körperbestandteile willkürlich gemischt oder Luft-ünd Speiseröhre sichtbar gemacht werden, oder ob sie nur wie bei Ehe L a s c a u x' „La Montagne Sainte-Genevieve“ in beinahe impressionistisch gesehenen Untereinheiten willkürlich zusammengeschoben werden (etwa ein sorgfältig gezeichneter Tannenwald mitten in eine ebenso sorgfältig gezeichnete Studierstube), bedeutet nur einen gradmäßigen Unterschied. In jedem Fall wird die naturgegebene Realität aufgehoben (daher „Surrealismus“) und an deren Stelle die nur scheinbar irreale Realität der Zersetzung als Ausdruck unserer geistigen Situation gesetzt. Daß diese Künstler zeichnen und malen können, steht außer Zweifel. Darauf beruht ja auch ihr Erfolg. Es gab zum Beispiel in der heurigen Herbstausstellung der „Surindependants“ im Parc de l'Exposition Bilder wie jene des leider verstorbenen Raymond Crispin, „Le grand prestidigia-teur“ und „Tableau“, von geradezu ergreifender Vollendung einzelner Bildteile (zum Beispiel eines Mädchengesichts), doch setzen sich diese Bildteile nidit organisch aneinander, sondern willkürlich (surrealistisch, zersetzt), so daß zum Beispiel sich an einen durchgeistigt, aber ebenmäßig gezeichneten Porträtkopf nicht Arme und Rumpf schließen, spndern an Stelle der Arme etwa stilisierte Zeihen und an Stelle des Rumpfes eine groteske Weckeruhr. Bei Picasso finden wir häufig auch die Linien an sich abgebogen und geeckt, als'sollte die Ungeradlinigkeit unserer Zeit ausgedrückt werden.

Daneben gibt es auch die vornehmlich von M a t i s s e vertretene ornamentale Kunst. Wenn sie sich nur als solche geben würde, wäre sie — für Tapeten, Textilzeidiner usw. — sicherlich eine berechtigte Quelle der Freude. Doch erhebt sie höheren Anspruch. Was diese „abstrakten Malereien“ („peintures abstrai tes“), „obstinations“, „translations“, „natures mortes“ (Stilleben) und „compositions“ sein wollen, ist nichts weniger als ernste Kunst, Ausdruck von geistigen Realitäten. Doch was soll man mit flächigen Ornamenten eines Nicolas W a a r b, Jean F 1 a u b e r t, Andre“ Heurtaux? Man wird dazu sagen müssen, daß mehrfarbige Kreise, Ellipsen, Wellenlinien und Rechtecke' eventuell als kunstgewerbliche Arbeit oder als Schülerarbeiten gewertet werden können, daß aber weder Ideen („Dualismus“, „Trunkenheit“) noch Naturerscheinungen (zum Beispiel „Fische im Wasser“) auf solche Weise wiedergegeben werden können. Wie gesagt, manche dieser Malereien sind von großer Schönheit und Zartheit, sie könnten vielleicht eine ganze Epoche herrlicher kunstgewerblicher Arbeiten für Zwecke der Innenausstattung von Luxusschiffen, Speisewagen, Gesellschaftsräumen usw. einleiten, nur sollten sie nicht den Anspruch erheben, Transponierung von Ideen zu sein.

In der Pariser „Exposition internationale d'art moderne“ sah man gegen Jahresende 1946 eine Reihe hervorragender Werke, darunter auch eines von Matisse, die durchaus geeignet sind, die klassische französische JCunst in unsere Zeit weiterzuführen, ohne ich den Vorwurf antiquierter Glattheit einerseits oder überspitzter Modernismen andererseits machen zu müssen. Auch unsere österreichischen Maler, die leider, wie die Ausstellungen in Linz und Klagenfurt zeigten, auch vielfach allzuweite Wege ins rein Abstrakte machen, könnten dort lernen, daß man schöpferisch sein kann, ohne Unverstand* lieh zu werden. Auch die Ausstellung von Werken von B o n n a r d hat dies in Paris gezeigt. Daneben gab es auch herrliche Ausstellungen rein katholischer Kirchenkunst („Unbekannte Malereien aus den Kirchen von Paris“), die in ihrer Geschlossenheit sehr wohltuend wirkten.

Paris bietet heute eben ein vollumfäng-tiches Bild der künstlerischen Zeitströmungen der Gegenwart, ohne darüber die ewigen Werke der Vergangenheit zu vernachlässigen. Darum strahlt Frankreich heute soviel an kulturellen Werten überallhin aus.

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