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Moskau hat viele Gesichter

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Die Sightseeing-Programme der Gruppenreisenden nach Moskau laufen reibungslos und glatt nach einem feststehenden Schema ab, das bei allem, was es den Teilnehmenden an Neuem, Schönem und Interessantem bietet, kaum Spielraum für individuelle Neigungen läßt und wenig dazu beiträgt, eine so vielschichtige Stadt wirklich zu „erfahren“. Alles gleitet zu schnell vorbei, schwer ist es, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, die Fülle des Angebotenen verwirrt, Verweilen ist unmöglich.

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Die Sightseeing-Programme der Gruppenreisenden nach Moskau laufen reibungslos und glatt nach einem feststehenden Schema ab, das bei allem, was es den Teilnehmenden an Neuem, Schönem und Interessantem bietet, kaum Spielraum für individuelle Neigungen läßt und wenig dazu beiträgt, eine so vielschichtige Stadt wirklich zu „erfahren“. Alles gleitet zu schnell vorbei, schwer ist es, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, die Fülle des Angebotenen verwirrt, Verweilen ist unmöglich.

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An den karg gesäten Nachmittagen „zur freien Verfügung“ ist der Besucher meist ziemlich ratlos, läßt sich verleiten, im Warenhaus GUM auf dem Roten Platz oder im TSUM neben dem Bolschoi-Theater nach Andenken zu fahnden. Er besichtigt die Läden der Gorkistraße oder fährt eben einfach noch einmal nach dem Ausstellungsgelände hinaus, um im rotierenden Restaurant des Funkturms teuer zu speisen und die Aussicht zu genießen.

Wieweit könnte man nun diese freie Zeit — immer im Rahmen einer Gruppenreise — besser und dem individuellen Geschmack angepaßter nützen?

Die Rundfahrten mit den nimmermüden Intouirist-Führeiinnen umfassen meist am ersten Tag: den Roten Platz („Bitte links das Warenhaus GUM, 90 Millionen Besucher im Jahr, im Hintergrund die Basilius-Kathedrale und dahinter der weiße Neubau des Touristenhotels ,Ros-sia', 6000 Betten“); die Lumumba-Universität auf den Lenin-Hügeln, die sechs der 14 Fakultäten der Moskauer Staatsuniversität beherbergt Ein kurzer Halt auf dem großen Platz davor — er erinnert ein wenig an die Piazza Michelangelo von Florenz — erlaubt den Blick auf die in der Ferne liegende Stadt, den Fluß, das Riesenstadion „Lenin“ („102.000 Sitzplätze“) und den Komplex des Neujungfrauenklosters. Auf der Rückfahrt gibt es noch einen Halt am Wolkenkratzerhotel „Ukraine“, um die modernen Hochhäuser auf der anderen Flußseite zu photogra-phieren, die dem Stadtbild ein westliches, wenn man will, amerikanisches Aussehen geben.

Rüstkammer des Zaren

Einen Nachmittag verbringt der Standardreisende mit der Besichtigung des Lenin-Mausoleums und anschließendem Besuch des Kreml: „Rüstkammer“ und „Schatzkammer“ des Zaren mit herrlichen Zeugnissen ■ russischer Goldschmiedekunst und Schätzen europäischen und orientalischen Kunstgewerbes. Dann folgt auf dem Platz des Kreml die Besichtigung der meist von Italienern erbauten Kirchen: die Uspen-skij -Kathedrale mit wertvollen Ikonen, die Zaren wurden hier gekrönt; die Verkündigungskathedrale mit einzigartigen Wandmalereien; die Kathedrale des Erzengels mit den Sarkophagen aller russischen Zaren bis zu Peter dem Großen. Der Reisende wird den Glockenturm, Symbol des Kreml, bewundern („1505 begonnen, 1600 unter Boris Godu-now beendet“) und staunend vor der größten Glocke der Welt stehen („200 Tonnen schwer“). Selten wird ihm das Alte Palais mit den niedrigen, gewölbten Gemächern, den vergoldeten Türen, Majolika-Öfen und orientalischer Wohnkultur gezeigt, dafür aber stets der jüngste Bau des Kreml: die große Konzert- und Theaterhalle aus Marmor, Beton und Glas („6000 Sitzplätze, riesige Bühne, fehlerlose Akustik, Klimaanlage“). Ein weiterer Vormittag ist den „Errungenschaften der Sowjetunion“ auf dem permanenten Ausstellungsgelände in Ostankino gewidmet. Funkturm, Denkmal der Astronauten, 78 große und 300 kleine Pavillons und Ausstellungshallen. Auf der Hin- und Rückfahrt begegnet dem Besucher eine verwirrende Fülle neuer und alter Baulichkeiten: Der Palast des Obersten Sowjets — 1735 diente er zur Zeit Peters des

Großen den Prinzen und hohen Gästen, die von Petersburg aus die alte Hauptstadt besuchten; das Museum der Sowjetarmee im Frunse-Park, 1779 beherbergte es das Jekaterinen-Institut; die riesige Lenin-Bibliothek; die Akademie der Astronauten, einstöckig im orientalischen Stil mit Kuppeln und Türmchen.

Vielleicht hat der Tourist Glück, und der Fahrer macht eine Schleife dem Botanischen Garten zu und führt ihn in Ostankino wenigstens an dem Schloß des Grafen Serementieff vorbei, ein wichtiges Kulturdenkmal der Goethe-Zeit in Rußland. Ganz aus Holz errichtet, sieht es dennoch aus,

als bestünde es aus farbigem Marmor. Die Kirche des heiligen Nikolaus daneben, grün- und goldschimmernd, wurde schon 1683 erbaut und bildete mit dem kleinen See und dem Park um die Jahrhundertwende eines der beliebtesten Sommerausflugsziele für Moskauer Familien. Vor die Wahl gestellt, dem Fremden das „Puschkin-Museum der Modernen Künste“ oder die Tretjakowgalerie zu zeigen, wird der Intourist stets für diese russische Nationalgalerie mit Tausenden von Bildern des 18. und 19. Jahrhunderts optieren. Jemand hat die Tretjakow „ein aufgeschlagenes Bilderbuch russischer Gesdiichte“ genannt. Künstlerischer Höhepunkt sind zweifellos die beiden Säle der Ikonen im Erdgeschoß. Ein Ballett- oder Theaterabend vervollständigen das „Soll“ des eiligen und in der Zeit begrenzten Gruppenreisenden. Am Abfahrtstage wird er mit einer Fülle neuer Eindrücke in seine Heimat zurückfliegen, ohne viel von der wirklichen Atmosphäre des alten und des neuen Rußland gespürt zu haben.

Moskau hat viele Gesichter. Der Tourist eines Luxushotels, in Kontakt

mit Intourist-Funktionären, hat nur das Offizielle, das Moderne der turbulenten Innenstadt gesehen oder allerhöchstens das Genormte der Arbeiterneubauten in den Außenbezirken. Es entgeht ihm aber das ruhige, freundliche Gesicht der Peripherie, wo die Menschen mit Würde ihre ein wenig abgenützten Anzüge tragen, aber mit instinktiver Herzlichkeit den Besucher in ebenso alte und ein wenig abgenützte Büros und Behausungen führen, wo die Straßen noch mit Bäumen bestanden sind, versteckte kleine Parks liegen, stille Gäßchen mit spielenden Kindern und Tschechow jeden Augenblick um die Ecke kommen könnte.

Nicht das Gesicht des alten, des mystischen Rußland bekommt man zu sehen, das noch in den Klöstern weiterlebt und im Wesen des russischen Menschen mitschwingt. Nicht das Gesicht des bäuerlichen Rußland, dem man Tag für Tag, Nacht für Nacht in den Bahnhöfen, die die Hauptstadt wie ein Kranz umgeben, begegnen kann. Diese Bahnhöfe sind Vorposten des riesigen russischen Bauernlandes, eine Brücke, die die

bäuerliche Provinz mit den wenigen Stadtinseln, wie Moskau, Leningrad oder Kiew, verbindet.

Nichts und niemand sollte den Besucher davon abhalten, die Basilius-Kathedrale auch im Innern zu besichtigen. Bis vor kurzem war dies der Restaurierungsarbeiten wegen unmöglich. „Eintritt 25 Kopeken, dienstags geschlossen.“ Iwan der Schreckliche ließ die Kathedrale 1554 zum Andenken an seinen Sieg und Einzug in Kasan errichten. Sie besteht aus neun Kapellen, in die man über eine enge Wendeltreppe vom Erdgeschoß aus steigt. Untereinander durch ein kompliziertes System von Galerien, Treppchen, engen Passagen verbunden, enthalten sie herrliche Ikonen, eisengeschmiedete Gitter, Leuchter und Wandmalereien. Auch die Gänge, Gewölbe und Passagen sind ausgemalt mit Blumenzweigen und Arabeskenmotiven in Harmonie mit den Kapellen. Nachher empfiehlt sich ein Bummel auf der Seite des GUM, dort, wo die Bäume stehen, den Röten Platz entlang (für Leute, die mehr Zeit haben und gut zu Fuß sind, sei eine vollständige Umwanderung des Kreml,

zirka vier Kilometer, als äußerst reizvoller Spaziergang angeraten), dann kurz bergab zwischen den beiden großen roten Backsteinbauten hindurch (Historisches Museum links, Palast der Revolution rechts) bis zur nächsten Metrostation. Von dort sind es drei Haltestellen bis zum Knotenpunkt der Kropotkinskaya und Volkhonska ulitza. Hier steht das „Puschkin-Museum der bildenden Künste“, nicht zu verwechseln mit dem Puschkin gewidmeten Museum in der Kropotkinskaya.

Bis zur Revolution enthielt die Galerie fast nur Gipsabdrücke der Klassik und der italienischen Renaissance in Naturgröße. Heute ist ein Teil der Eremitagebestände dorthin abgezweigt worden: Rembrandt, „Vertreibung der Händler aus dem Tempel“ und das schöne Porträt seines Bruders, Perugino, die „Minerva“ von Veronese, Botticellis „Verkündigung“ und das große „Bacchanal“ von Rubens. Der eigentliche Ruhm der Galerie aber besteht in der geradezu phantastischen Sammlung moderner französischer Maler, deren Saal man durch die naturgetreue Nachahmung

der Freiberger Goldenen Pforte betritt. Es ist eine atemberaubende Sammlung, Verdienst zweier vorrevolutionärer Kunstfreunde, Moro-sow und Schtschukin.

Dreizehn Gauguins

Matisse, der 1911 längere Zeit in Moskau weilte, hat viel dazu beigetragen, die neue französische Malerei bekannt zu machen. Bis 1940 war die verstaatlichte Sammlung in einem besonderen, später aufgelösten Museum zu sehen. Dann verschwand sie und wurde erst 1955 zu fast gleichen Teilen auf die Eremitage und das Puschkin-Museum verteilt. Die Moskauer Schau aber gilt als die geschlossenere und eindrucksvollere.

Hier hängen Picassos „Dame mit dem Schleier“ und das kubistische Porträt Vollards, 13 Gauguins, Manets „Frühstück im Grünen“, die „Themselandschaft im Nebel“ von Monet, Renoir, Degas, Matisse, van Goghs Porträt des Irrenarztes und jenes beklemmende Bild vom Innenhof der Anstalt, auf dem die Kranken in engem Raum, Gefangenen gleich, im Kreis marschieren.

Das Museum ist bis acht Uhr abends geöffnet, meist ist keine Zeit mehr, nachher das in der Nähe liegende Andronikokloster aufzusuchen. Man hebe es sich für den zweiten „freien“ Nachmittag auf, der dem Eintauchen in die mystische Welt des alten Rußland vorbehalten sei. 1360 erbaut, ist es heute in ein Museum für Rußlands bedeutendsten Künstler des Quattrocento, den Malermönch Andrej Rubilov, umgewandelt. Er lebte dort und ist in der 1410 errichteten Kathedrale begraben. Der ganze Zauber des russischen Mittelalters umweht auch den sehr viel größeren Klosterkomplex des Neujungfrauenklosters, zwei Jahrhunderte später als das Andronikokloster entstanden: 1525 begann man mit dem Bau unter dem Zaren Was-silij III. Der Komplex umfaßt fünf Kirchen und den schönsten Friedhof von Moskau. Man sagt, daß Boris Godunow hier vor seiner Ausrufung zum Zaren Zuflucht fand. Eine bis zum Fluß hinunterführende Wehrmauer mit Zinnen und zwölf Türmen schließt das Kloster von der Außenwelt ab. Besonders schön ist der Turm über der schmalen Eingangspforte. Die Kirchen selbst sind ein prächtiges Zeugnis russischen Frühbarocks.

In der Smolenski-Kathedrale werden noch Gottesdienste abgehalten. Auf den Bänken unter den uralten Bäumen sitzen Einheimische und Besucher, gemächlich streicht der fette Kater des Popen an den Gemäuern entlang, die Stille wird durch kein Autohupen, die Beschaulichkeit durch keine Hast gestört. Im Parkfriedhof liegen Anton Tschechow und Gogol, der Anarchist Kropotkin und Swetlana, Stalins Mutter, begraben. Vor ihrer Ruhestätte — einer weißen schmalen Marmorstele, die in einen schmerzlich lächelnden Frauenkopf übergeht — fehlt es nie an Besuchern.

Pulsierende Metrostation

Nun wende man noch eine halbe Stunde für den Besuch irgendeines der Fernbahnhöfe auf, vielleicht des ältesten, des 1851 errichteten Leningrader Bahnhofs, oder der Metrostation Komsomolskaya. Hier trifft man in den bis zur Unwahrschein-lichkeit überfüllten Wartesälen eine laute, fröhliche, geduldige Masse von Menschen, mit Bündeln, Koffern, Netzen, Tragtaschen, Rucksäcken auf ihre Züge wartend, Hunderte, Tausende, Zehntausende, zu jeder Tagesund Nachtzeit. Immer zu Scherzen aufgelegt, immer bereit, dem Fremden eine Schnitte der kostbaren Gurke anzubieten oder Platz auf der Bank zu machen. Eisverkäufer winden sich durch die Menge, Schmalzgebackenes, süß oder pikant, wird feilgeboten.

Bauersfrauen aus dem Süden, am Morgen mit dem Flugzeug angekommen, und bereit, am Abend oder am nächsten Tag wieder zurückzufliegen, bieten Blumen zum Verkauf an. Ein Soldat spielt auf der Mundharmonika. Junge Leute in kurzen Khakiblusen mit einem Abzeichen auf dem Rücken (es sind Studenten, die freiwillig in den Ferien im hohen Norden, in Sibirien oder am Ural arbeiten) ziehen die Blicke der jungen Mädchen auf sich. Kinder weinen und schlafen getröstet auf einem Bündel wieder ein. Eifersüchtig bewachen alte Frauen ihre mit Früchten gefüllten Eimer. Moskau ist der Umschlagplatz vom Osten nach dem Westen, von Süden nach Norden. Die Menge der Reisenden ist ein Beweis des sich auf weite Schichten ausbreitenden neuen Wohlstandes. Es ist absolut nicht so, wie eine entsetzte westliche Besucherin ausrief: „Können sie denn hier nicht wenigstens Bänke für die armen Leute hinstellen?“ Alle Bänke Moskaus würden in der Reisesaison nicht ausreichen, den reiselustigen Russen Sitzgelegenheiten zu verschaffen. Für wenige Rubel kann heute jeder in seinen Ferien von Süden nach Norden fahren, von Osten nach Westen. Und jeder will einmal dabei in Moskau Station machen, um die große Weltstadt zu sehen, zum Lenin-Mausoleum zu pilgern, mit der Untergrundbahn zu fahren ...

Zwei freie Nachmittage sind eine winzige Spanne Zeit, ein Land oder ein Volk kennenzulernen, aber richtig ausgenützt erlauben sie dennoch, ein „anderes“ Bild von einer Standardreise mit nach Hause zu nehmen.

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