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Musik der Neuen Welt

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„Der afrikanische Komponist hatte keine alte nationale Musiküberlieferung, an die er sich hätte halten können; aber er besaß eine Überfülle an Stoffen in den weiten Räumen Amerikas“, o kennzeichnet ein zeitgenössischer amerikanischer Komponist die Situation der amerikanischen Musik im 18. und 19. Jahrhundert. Dieser „Musikstoff“ ist die einheimische, viel-tarbige Folklore, welche in Amerika übrigens ebenso spät entdeckt wurde wie in Europa. Der Kenner der amerikanischen Musik läßt als die einzige wirkliche echte Volksmusik nur die der eingeborenen Indianer gelten. Sie stellt zugleich die älteste folkloristische Schicht dar. Eine zweite, jüngere, bildet die Musik der Neger: ihre religiösen Gesänge (Negro spirituals), Arbeitslieder und Tänze, die noch ursprüngliche Züge aufweisen, aber doch auch schon stark von der Musik der Weißen beeinflußt worden sind. Eine dritte Gruppe von Liedern und Tänzen ist noch von besonderer, weil stilbildender Bedeutung: die angelsächsische, die den Einfluß der ihr in Europa überlegenen Musiknationen fast vollständig verdrängt hat. (Nur in Südamerika dominieren zum Teil spanische und italienische Elemente.)

Vdn einem Musikleben in den Vereinigten Staaten kann erst seit etwa. 1720 gesprochen werden. Nach 1848 wurden die ersten großen Orchester und Opernunter-riehmüngen gegründet, und erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bahnt sich — parallel mit der folkloristischen Bewegung in Europa — eine Synthese zwischen Volksund Kunstmusik an, beginn: sich eine eigenständige amerikanische Musik zu formen. (Während des ganzen 19. Jahrhunderts war die Musik der Staaten ein Ableger der europäischen Musik, erst der englischen und italienischen, später fast ausschließlich der deutschen.)

In nachromantischem Geist versucht als erster MacDowell (1861 bis 1908) eine bodenständige amerikanische Musik zu schaffen. Von großer Bedeutung war auch das Wirken Dvoraks in den Vereinigten Staaten, der sich von seinem Schüler Bur-leigh in die amerikanische Volksmusik einführen ließ und bekanntlich das erste Standardwerk amerikanisdier Musik schuf, die Symphonie „Aus der Neuen Welt“. Daß dieses Werk auf uns heute eher böhmisch als amerikanisch wirkt, ist darauf zurückzuführen, daß Dvorak — der ja nur vorübergehend in Amerika weilte — keine Zeit hatte (und vielleicht auch nicht dazu fähig war), sich in den Stil und die Eigentümlichkeiten der indianischen Musik einzufühlen, sondern nur einzelne Melodien sowie den synkopischen Rhythmus als reizvollen, exotischen Aufputz verwendet. Aber nicht darauf kam es an. Ähnlich wie Dvorak, lernte der 1868 geborene Stanford Skilton bei einem seiner indianischen Schüler, setzte seine Studien als Lehrer an einer Regierungsschule für Indianer fort und schrieb eine ganze Reihe von Kompositionen über indianische Themen. Eines dieser Werke führt den bezeichnenden Titel „Ursuite“ (Suite Primeval) und enthält die Sätze: Sonncnaufgangslicd, Spielerlied, Flötenständchen und Mokassinspiel. Er schrieb auch zwei stilechte indianische Opern, „Kalopin“ und „Die Braut der Sonne“, welche 1930 uraufgeführt wurde. Auf indianischer Musik basieren auch die meisten Kompositionen von Ch. W. Cad-man; sein Orchesterwerk „Vom Lande des himmelblauen Wassers“ und die Opern „Shanewis“, „Das Frühlinyslied des Rotkehlchens“, in welcher der Komponist rituelle Gesänge der Omahas verwendet, sowie „Sonnenuntergangspfad“. Der mittleren Generation gehört Frederick Jacobis an, der in seinen Kammermusik- und Orchesterwerken bewußt indianische Motive verarbeitet uruL als Vertreter der folkloristischen Richtung gilt. Als Sammler und Bearbeiter indianischer Melodien betätigte sich auch der Dvorak-Schüler H. W. Loomis, dessen Klaviersuite „Gedichte der Rothaut“ bekannt wurde.

Das angelsächsische Erbe — in amerikanischer Umformung — verwaltet der 1882 in Virginia geborene John Powell. Er benutzt Originalweiscn der ersten virginischen Einwanderer und hält in vielen seiner Kompositionen an den alten Tonarten (mixoly-disdi, dorisch, ionisch) fest. Er schrieb unter anderem auch eine „Sonate Vir-ginianesque“, 1919, eine Ouvertüre „In Old Virginia“, 1921, — freilich auch eine „Rhapsodie Negre“ für Klavier und

Orchester, mit welcher er den größten Erfolg hatte. Sehr populär sind die Bearbeitungen englisch-amerikanischer Volkslieder des Edward-Grieg-Schülers Percy Grainger. Er wurde in Australien geboten, studierte in Europa und kam während des ersten Weltkrieges nach Amerika. Er hat sich mit der Musik fast der ganzen Welt beschäftigt und meint, daß jeder ernsthafte Musiker einen so weiten Bereich der Musik kennen sollte — was ja für seine Künstler-kollegcn, die Dichter, Maler und Architekten selbstverständlich ist. „Aber trotz dieses universellen Gefühls für Musik, des Überblicks über die Musik“, meint Grainger, „sollte die Musik das Empfinden eines Landes, einer Nation ausdrücken, genau wie sie die persönlichen Gefühle eines Komponisten widerspiegelt. Ich glaube, ich kann meine Ansicht über Universalität und Nationalismus in der Musik wie folgt formulieren: heimische Saat, weltweite Ernte!“

Wie stellt sich nun dies „Empfinden eines Landes, einer Nation“ in der amerikanischen Musik dar? Wir können es aus den Werken der angeführten Komponisten noch nicht deutlich ablesen, sondern müssen uns an die etwa seit 1930 in Amerika entstandenen Kompositionen der jüngeren Musikergeneration halten. Was die Älteren geleistet haben, waren Versuche, aber noch keine endgültigen Lösungen. Wir müssen, wenn wir zu wesentlichen Merkmalen des amerikanischen Musikstiles kommen wollen, auch die in der Neuen Welt entstandenen Werke der emigrierten europäischen Komponisten, etwa eines Hindemith, Schönberg, Bart6k, oder Krenek außer Betracht lassen, da sie wohl spürbar auf die Musik ihrer Schüler einwirken, in ihren eigenen Werken aber kaum einen Einfluß der neuen Umwelt — von einigen Werken Bartöks abgesehen — erkennen lassen. Hier bieten sich der Betrachtung vor allem die jüngeren amerikanischen Symphoniker: ein Roy

Harris (mit sechs Symphonien), William Schuman (mit fünf), Georg Antheil (mit vier) und eine lange Reihe weiterer Symphoniker.

Was zunächst auffällt, ist die Weiträumigkeit, der kraftvolle, jugendliche Schwung und Optimismus dieser Werke — Eigenschaften eines jugendlichen Landes und eines jungen Volkes. Besonders charakteristisch sind die rhythmischen Allegro-Sätze dieser Symphonien — in denen es freilich auch manchen Leerlauf gibt —, die den Hörer aber zuweilen geradezu physisch überwältigen. Weniger befriedigen uns ihre langsamen Sätze, mit denen sie sich's manchmal allzu leicht machen, denn ein von einer gefälligen Melodie getragener Blues oder English Waltz will uns nicht ah Äquivalent für das klassisdi-romantjsdie Adagio genügen, wie wir es von den großen Meistern der symphonischen Form gewöhnt sind.

Fast alle diese Amerikaner beherrsdien ihr Handwerk ausgezeichnet und sind glänzende Instrumentatoren. Die Errungenschaften der europäischen Musik der letzter, 50 Jahre benützen sie mit der größten Selbstverständlichkeit und Virtuosität. Daß es nicht so effektvoll geschieht, wie bei manchen europäischen Komponisten, ist zweifellos ein Vorteil. Beim Anhören neuer amerikanischer Musik staunt man immer wieder über dies Neben- und Ineinand/rr von Einfachheit, ja Primitivität und Raffiniertheit, von Vitalem und Konstruktivem, Sentimentalem und Ironisch-Persi flierendem., Weniger deutlich tritt uns dieser neue Musikstil in den Kammermusikwerken der Amerikaner entgegen, in denen die europäische Musiküberlieferung stärker wirkt und das Riesenformat zu gedrun gener Fülle gebändigt ist. Zwar hat die junge amerikanische Musik, die zwischen den beiden Weltkriegen einen großen Aufschwung genommen hat, noch keinen Walt Whitman und noch keinen Thoma' Wolfe aufzuweisen. Aber nichts sprich' dagegen, daß Amerika der Welt eine Tages auch einen ganz großen Komponistc schenken wird.

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