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Musik in der Schweiz

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Ernest Ansermet, dessen Naime in der internationalen Musikwelt einen guten Klang hat, ist eine der interessantesten Dirigentenpersönlichkeiten der Gegenwart. Eine Fügung des Schicksals brachte diesen Schweizer aus Lausanne vom Anfang seiner Dirigentenlaufbahn an stets mit jungen, manchmal gänzlich unbekannten Musikern in Berührung und so wurde er zum Interpreten ihrer Werke. Er trat in enge Beziehung zu Debussy und Ravel und hat viele ihrer Kompositionen aus der Taufe gehoben. Auch mit Strawinsky und Alban Berg verbanden ihn freundschaftliche Beziehungen, und auch mit Hindemith verknüpften ihn künstlerische und persönliche Bande, die er jetzt, nach der beabsichtigten Rückkehr des Komponisten aus Amerika, wieder enger zu gestalten hofft. Ansermet ist der Dirigent der modernen Musik und man hat ihn diesen Sommer nach Glyndebourne eingeladen, die neue klassisch-tragische Oper von Benjamin Britten „The rape of Lucretia“ (Der Raub der Lukretia) einzustudieren und zu dirigieren. Das Schloß Glyndebourne, unweit von London, ist gewissermaßen ein englisches Salzburg. Mitten in einer Heide steht das uralte Schloß, das von einem reichen Engländer zu einem Theater umgewandelt wurde und ursprünglich nur für Aufführungen von Werken Mozarts bestimmt war; später allerdings nahm man auch Verdi-Opern auf und in diesem Jahr wurde zum erstenmal nach dem Kriege wieder die Festspiele abgehalten und diesmal mit einer Uraufführung eröffnet.

Man bezeichnet zwar Ansermet als den Dirigenten moderner Musik, trotzdem hat er sich noch keinen Augenblick von der klassischen Tradition entfernt. Im Gegenteil, er hält es für sehr wichtig, die Anknüpfung der modernen Musik an die klassische immer wieder klar herauszustellen und im Konzertleben an der Pflege beider Gattungen festzuhalten. Es ist interessant, gerade von Ansermet, dem Mittler des neuen Musikschaffens, etwas über die Schweizer Komponisten, ihr Wirken und den Einfluß schweizerischer Musik auf die gesamteuropäische Musik zu erfahren.

Typisch für die gesamte Schweiz, die ja bekanntlich in drei ethnische Kreise zerfällt, die sich mit den kulturellen Einfluß grenzen deefc-n, ist auf dem Gebiet des musikalischen Schaffens ihre Offenheit allen Richtungen und Tendenzen gegenüber. Jeder Teil des Landes hat selbstverständlich seine eigene Geschmacksrichtung, und die musikalische Produktion der Komponisten trägt in jedem Teil ihren eigenen Stempel, aber das Publikum ist an den wichtigen musikalischen Ereignissen in der ganzen Welt sehr interessiert und durch die schweizer Pr.se gut informiert. So kennt und pflegt man in der welschen Schweiz, die selbstverständlich eine große Neigung zur französischen Kunst zeigt, auch die Werke von Hindemith und Schönberg, ebenso wie man die jungen Franzosen und Russen aufführt. In der deutschen Schweiz verspürt man gleichfalls den internationalen Einfluß. Da Stadttheater in Zürich war bisher das einzige Opernhaus, das — neben dem „Wozzek“ — auch die Oper „Lulu“ von Alban Berg herausbrachte. „Matthis der Maler“ von Paul Hindemith wurde auf dieser Bühne ebenso inszeniert wie „L'heure Espagnol“, eine Buffa-Oper von Ravel. Auch verschiedene Werke von Strawinsky und in der neuesten Zeit der junge Engländer (Britten) waren in Züricher Konzerten zu hören. Eine solche internationale Kultur ist für junge schaffende Künstler natürlich nicht ganz ohne Gefahr, weil sie dadurch ihre bodenstämmige Eigenart verlieren können, löst aber auch unbedingt eine Schärfung des kritischen Urteils aus. So sieht man in den Werken der jungen schweizer Komponisten einen gewissen Einfluß dieser modernen Tendenzen. Es haben eine Reihe von Musikern an die Experimente von Schönberg, Hindemith und Strawinsky angeknüpft, und man kann in ihrer Entwicklung deutlich die Anklänge an diese Großen der modernen Musik verfolgen.

In der deutschen Schweiz genießt immer noch Othmar Schoeck, der im September seinen siebzigsten Geburtstag feierte, ein Schüler Regers, der Komponist zahlreicher Lieder und einiger Opern, deren bekannteste „Venus“, „Das Wandbild“ und „Penthe-silea“ sind, die größte Verehrung. Seine Lieder, die an Schubert und Hugo Wolf anklingen, sind für die deutsche Schweiz ein Erbgut von großem Wert. Die Opern wurden auch im Ausland, besonders in Deutschland, erfolgreich aufgeführt und sind heute in das deutsche Opernschaffen mit einbezogen.

Die jüngere Richtung in der deutschen Schweiz vertritt Willi Burckhardt. Seine beiden Oratorien „Gesicht Isaias“ und „Das Jahr“ haben ihn über die Grenzen des Landes hinaus bekannt gemacht. Von eigenem Reiz ist eine Symphonie in einem Satz für Orchester, bei der er einen „Hymnus“ von Novalis als Textgrundlage -nahm. Zahlreiche Chorwerke, Kammermusikwcrke sowie ein Violin- und ein Cellokonzert ergänzen das fruchtbare Schaffen dieses Künstlers, dessen Tendenz in Klangfarbe und Rhythmus an Hindemith anknüpft, aber doch wieder eigene Wege beschreitet, denn er geht ganz von persönlichen Empfindungen aus und wirkt dadurch spontaner.

In der welschen Schweiz hat in den letzten Jahren France Martin, ein Komponist von großem Format, immer mehr an Bedeutung gewonnen. Er ist bereits über 50 Jahre alt “und erreichte eine Reife und Meisterschaft, die in seinen letzten Werken besonders zum Ausdruck kommt. Seine Musik ist eine eigenartige Mischung von welschem Temperament und germanischer Kultur. Er pflegt die 12-Tontechnik von Schönberg und hat dann aus einer Synthese dieser Technik und der klassischen Tradition, die in Bach verwurzelt ist, sein eigenes Schaffen gestaltet. Martin ist in erster Linie Lyriker, wie schon die Wahl seiner Texte und die Form der Werke zeigt. So hat er den Originaltext des Epos „Tristan“ von Gottfried von Straßburg für 12 Solosänger, Streichsextett und Klavier komponiert. Dieses abendfüllende Werk, das den Titel „Le vin herbe:“ trägt, soll in nächster Zeit auch in Wien aufgeführt werden. „Die Weise von Liebe und Tod“ von Rainer Maria Rilke vertonte Martin zu einem Liederzyklus, den „Cor-nett“ für Altstimme und Kammerorchester. Unvergessen bleibt sein Oratorium „In terra pax“ für Doppelchor, Solisten und Orchester, das Martin für den Waffenstillstandstag vorbereitete und das an dem Tag, da der Waffenlärm in der Welt verstummte, über den Sender Genf der ganzen Welt durdi den Äther in seiner ergreifenden Klangsdiönheit vermittelt wurde. Den Text hat der Komponist aus der Bibel selbst ausgewählt. Eines seiner letzten Werke ist eine kurze Symphonie für kleines Ordiester, Chor, Cembalo und Harfe, und gegenwärtig arbeitet Martin an einer großen Passion, die den Titel „Golgatha“ trägt.

Neben France Martin und Willi Burckhardt steht noch an der Spitze des schweizer Musikschaffens Arthur Honegger, der sich aber ständig in Paris aufhält. Er ist alle-mannischer Abstammung, und da er sozusagen die Verkörperung französischer Kultur darstellt, gilt er in seiner Heimat als ein Symbol der Verbundenheit zwischen der deutschen und welschen Schweiz.

Ernest Ansermet hofft, in der nächsten Zeit die Möglichkeit zu haben, in Wien mit den Philharmonikern und der Gesellschaft der Musikfreunde zusammenarbeiten zu können und dann als Interpret schweizerischer Musik Österreich mit den Komponistenpersönlichkeiten seines Landes bekanntmachen zu können.

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