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Musik in Montreux

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Die Wappenfarben des Waadtlandes, des Kanton Vaud, sind Grün und Weiß. Aber die Atmosphäre der Landschaft um den Genfersee ist aus dreierlei Blau gebildet: dem des Himmels, der Berge und des Wassers. Seine Ufer sind von Norden und Osten durch die mächtigen Savoyer und Walliser Alpen abgeschirmt, wodurch hier ein viel südlicheres Klima herrscht, als man es nach dem Breitegrad vermuten könnte. Wie auf einer Perlenkette reihen sich am Nordufer des 72 Kilometer langen und 600 Quadratkilometer umfassenden Sees die Städte und Städtchen Villeneuve, Montreux, Clärens, Vevey, Lausanne, Morges, Geneve u. a.

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Die Wappenfarben des Waadtlandes, des Kanton Vaud, sind Grün und Weiß. Aber die Atmosphäre der Landschaft um den Genfersee ist aus dreierlei Blau gebildet: dem des Himmels, der Berge und des Wassers. Seine Ufer sind von Norden und Osten durch die mächtigen Savoyer und Walliser Alpen abgeschirmt, wodurch hier ein viel südlicheres Klima herrscht, als man es nach dem Breitegrad vermuten könnte. Wie auf einer Perlenkette reihen sich am Nordufer des 72 Kilometer langen und 600 Quadratkilometer umfassenden Sees die Städte und Städtchen Villeneuve, Montreux, Clärens, Vevey, Lausanne, Morges, Geneve u. a.

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Immer wieder hat es, seit Voltaires Tagen, Künstler, Schriftsteller und Musiker in diese Von der Natur so begünstigte und von Menschenhand geformte Landschaft gezogen. Jetzt, im Herbst, unter einem zugleich leuchtenden und immer etwas verschleierten Himmel, zeigt sie am deutlichsten ihr Gesicht: die Architektur ihres Geländes, das vom herbstlichen Laub der Weinstöcke gefärbt und auch entlang der Ufer- promenaden kaum von der üppigen Vegetation verhüllt wird. Sie lädt weniger zur Schwärmerei als zur Betrachtung, zum Verweilen beim gelungenen Detail ein, und sogar das von den meisten Punkten aus sichtbare eisgekrönte Montblancmassiv wirkt weniger drohend als dekorativ den Rahmen schließend.

Hier verbrachte Igor Strawinsky während seiner .„Pariser Zeit“, noch vor dem ersten Weltkrieg, mehrere Sommer zunächst in Clärens. Später lebte er fünf Jahre lang in Morges, einem ruhigen Städtchen mit heute etwa 7000 Einwohnern, schönen alten Bürgerhäusern aus dem 18. Jahrhundert, Mittelpunkt des Weinbaues der „Cöte“, sechs bis sieben Bahnminuten von Lausanne, Richtung Genf entfernt. Hier lernte Strawinsky 1915 durch Vermittlung Ernest Ansermets, der damals das Kurhausorchester von Montreux dirigierte, den waadtländischen Dichter C. F. Ramuz kennen, der für ihn die „Geschichte vom Soldaten“ schrieb und die russischen Texte der „Pri- baoutki“, von „Les Noces“, „Renard“ und andere ins Französische übertrug. Hier wurde auch „Le sacre du primtems“ orchestriert, und hier empfing Strawinsky die Besuche Diaghilews, um die Aufführungen seiner Werke durch das „Ballet Russe“ zu besprechen; hier spielte er Ravel seine neuen Kompositionen vor und freundete sich mit den einheimischen Künstlern Auber-jonois, den Brüdern Cingria und Morax, vor allem aber mit dem Meisterinterpreten seiner Werke, Ernest Ansermet an, der später in Lausanne und Genf als Leiter des Orchestre de la Suisse Romande tätig war.

Ansermet war auch mit Wilhelm Furtwängler befreundet, der seit 1945 in Clärens, das man als einen Villenvorort von Montreux bezeichnen kann, lebte: zunächst in der Klinik des bekannten Arztes Professor Niehans, später in der Villa „L’Empereur“ und zuletzt im eigenen Haus „Le Basset Coulon“, das heute seine Witwe bewohnt — ein schönes und gastliches Haus, das nicht nur den Kindern und den neun Enkelkindern jederzeit offensteht… In dem geräumigen Musik- und Empfangssalon hängt neben einer kostbaren, nach Kokoschkas Entwurf ausgeführten Tapisserie auch ein Selbstporträt des Künstlers, der sich in Villeneuve ein Haus gebaut hat und mit dem Ehepaar Furtwängler oft zusammentraf.

Villeneuve ist ländlicher, eine kleine Hafenstadt, unmittelbar unter den Dents du Midi gelegen. Von hier fährt man nur eine Viertelstunde mit dem Schiffchen nach St. Gingolph, der schweizerisch-französischen Grenze. Aber was für einer Grenze!

Auch der Fremde erfreut sich der freundnachiharlichen Verhältnisse und kann ohne Paß und Kontrolle nach Frankreich hinüberspazieren, um sich dort eine Packung „Gauloise“ zu kaufen (die er in Montreux übrigens billiger und besser haben kann). — Oberhalb von Clärens liegt die Villa, die Paul Hinde- mith bewohnte, wo seine Witwe lebte und die jetzt leersteht. Hoch über Montreux aber thront, unnahbar unseren Schritten, das Schloß Caux, Zentrum der „moralischen Aufrüstung“, deren Anhänger sich jedoch, wie man in Montreux hört, jetzt nach einem anderen Obdach umschauen müssen. Aber das ist eine andere Geschichte, die mit Musik und Festspielen nichts zu tun hat…

Die Musikfestspiele von Montreux, auch „Septembre musical’’ genannt, gibt es schon seit 23 Jahren. Während sie vor dem im Schatten ähnlicher Veranstaltungen in Zürich (Opernwochen), Basel (Bartök- und Strawinsky-Fest) und Luzem standen, sind sie heuer innerhalb der Schweiz ohne Zweifel an den ersten Platz gerückt Ihr Programm ist nicht nur umfangreicher, sondern auch vielfältiger als früher. In der Zeit vom 30. August bia 6. Oktober fanden insgesamt 26 Veranstaltungen statt: acht Orchesterkonzerte mit fünf Gastensembles unter Maazel, Bernstein, Stokowski, Barbirolli und anderen, drei Serenaden bei Kerzenlicht mit Werken der Wiener Klassik, Chorkonzerte mit Bachs Johannespassion und dem Requiem von Cimarosa mit dem Kammerorchester von Lausanne, dem Festspielchor Montreux und dem Rokokoorchester, daneben konzertierten I Madrigalisti di Venezia mit Musik zur Zeit der Dogen und das Barockensemble der Schola Gantorum Basiliensis mit Musik vom Hof Friedrichs des Großen. Natürlich fehlte es auch an Solistenkonzerten nicht, von Friedrich Kempf bis zu drei Orgelaben- den von Rogg, Biggs und Guillou.

Einen neuen, wichtigen Akzent erhielten die Musikfestspiele von Montreux durch einen Zyklus von drei der Avantgarde gewidmeten Konzerten unter dem Titel „Musik fürs 21. Jahrhundert“ sowie durch einen Filmabend mit Dokumentationen des Französischen Rundfunks. Der erste dieser Filme zeigt den vor kurzem verstorbenen Dirigenten Hermann Scherchen bei der Probe zu seinem letzten Konzert im März 1966 in der Kirche von Saint-Roch zu Paris, wo er die von ihm instrumentierte „Kunst der Fuge“ auf- führte. Eingeblendet waren Szenen aus dem Familienleben: Haus und Garten in Gravesano, die fünf Kinder zwischen acht und siebzehn Jahren — aber an Scberchens Stelle mußte bereits für diese Aufnahmen seine um 30 Jahre jüngere Frau treten, eine gebürtige Rumänin, die das Schwyzerdütsch ebenso beherrschte wie das Französische und das Hochdeutsche. Auch sie ist inzwischen gestorben, und die Vorführung dieses Films erfolgte zugunsten der angeblich völlig mittellosen Waisen (Scherchen hatte sein letztes Geld in akustische Experimente gesteckt…).

Das erste der drei Avantgardekonzerte war der Straßburger Schlagzeuggruppe anvertraut, die je ein Werk von Varese, Kabeac, Amy und Serocki aufführte. Am zweiten Abend gab es eine Welturaufführung, die gemeinsam vom Centre de Rechierches sonores de la Suisse Romande und dem Festival Montreux veranstaltet wurde. Zwei Schweizer und ein französischer Komponist hatten den Auftrag erhalten, das etwa acht Druckseiten umfassende Prosapoem „Les miroirs solitaires“ (Die einsamen Spiegel, sinngemäß: Spiegel der Einsamkeit) von Bernard Falciola zu vertonen, beziehungsweise als Grundlage einer audiovisuellen Produktion zu benützen: Werner Kaegi, Jean Derbes und Andre Zumbach. Sie und der Textautor gehören den Jahrgängen 1926 bis 1931 an und hatten offensichtlich keine Mühe, sich stilistisch einander anzupassen. Der Text wird zum Teil ohne Begleitung gesprochen, gesungen, untermalt oder choreographisch gedeutet. Hierfür stand das Tänzerpaar Frangoise und Dominique Dupuy zur Verfügung, das mit dem Textautor, den Komponisten, dem Dirigenten Luc Hoff mann und dem Regisseur Richard Vachoux eng zusammenarbeitete. — Das Ganze hatte viel Atmosphäre, das Thema (einsames Selbstgespräch, einsam vor dem Tod und Einsamkeit in der Liebe) war gut gewählt, die stets wechselnde Instrumentalbesetzung hatte sonoren Reiz, — die beiden Tänzer waren sehr ausdrucksvoll und dekorativ, in der Musik gab es starke Momente, vor allem was die originelle Behandlung der Sing- stdmme durch Derbes anbetrifft. Die Fachleute waren interessiert, und das Publikum, durch eine intelligente Einführung von Nicole Hirsch vorbereitet, zeigte sich stark beeindruckt. — Der letzte Abend dieser Reihe, von dem Pariser Kritiker Antoine Golea kommentiert, war einer Retrospektive gewidmet: „20 Jahre konkrete und elektronische Musik“, mit Werken von Schaeffer und Henri, Ferrari, Reibel, Malec und Xenakis (die berühmtberüchtigte „Polytope“, die für die EXPO 1967 in Montreal komponiert wurde). Im Kreischen, Wimmern, Pfeifen, Brausen und Brüllen der Tonbandgeräusche behaupteten sich Colette Herzog, Sopran, und Francis Pierre, Harfe, als „menschliche“ Komponente …’ ‘‘ fediA ‘

Planung und künstlerische Leitung dieses reichhaltigen und hochwertigen Programms waren heuer zum erstenmal Rene Klopfenstein anvertraut, der in Basel studiert hat und am Mozarteum ausgebildet wurde. Er unterbrach für 15 Jahre seine Tätigkeit als Dirigent, um sich pädagogischen und organisatorischen Aufgaben zu widmen, zum Beispiel als Generalsekretär der Schola Cantorum, Abteilungsleiter bei Philips und so weiter. Der aus Lausanne gebürtige, gebildete und liebenswürdige Musiker scheint prädestiniert für seine gegenwärtige Funktion.

Seiner Initiative sind auch zwei internationale Wettbewerbe zu danken, die heuer zum erstenmal in Montreux, zu Beginn und am Ende der Festwochen, stattfanden: für die beste Schallplatte des Jahres und die beste Leistung auf dem Gebiet des Flötenspiels. International und „prominent“ war auch die Zusammensetzung der beiden Preisrichterkomitees. Den ersten Platz beim Flötenwettbewerb, der mit einem Festkonzert abgeschlossen wurde, erspielte sich die 19jährige Holländerin Solita Cornelis, die folgenden drei Andras Adorjan (Dänemark), Jean Claude Gerard (Frankreich) und Gunter Rumpel (Schweiz). Von 51 Kandidaten aus aller Welt, die alle eine Phantasie von Faure und eine Sonate von Bach spielen mußten, kamen neun in die engere Wahl.

Für den Internationalen Plattenwettbewerb waren 20 Aufnahmen bei der Vorentscheidung ausgewählt worden, zu denen noch sechs Platten von seiten der Jurymitglieder hinzukamen. Die drei Preise gingen (in dieser Reihenfolge) an die Produzenten von „Elektra“ von Strauss mit den Wiener Philharmonikern unter Solti, Mahlers VI. Symphonie mit den New Yorker Philharmonikern unter Bernstein und das Concerto für Klavier und Männerchor von Busoni, ausgeführt vom Royal

Philharmonie Orchestra mit John Ogdon. Ein Ehrendiplom erhielt Leopold Stokowski, einer der Pioniere der modernen Schallplatte, der sich dem neuen Medium schon seit 50 Jahren widmet.

Bereits in diesem Jahr zeigte sich der Effekt des neuen Programms, sowohl bei den einzelnen gutbesuchten Veranstaltungen wie auch bei der Presse. Zum erstenmal konnte Montreux 40 ausländische und 25 Schweizer Kritiker anlocken. Aber auch das bestens funktionierende Pressebüro, die Liebenswürdigkeit der Gastgeber und die immer noch vorbildliche Schweizer Hotelerie werden so manchen bewegen, wiederzukommen.

Als Strawinsky 1920 nach sechsjährigem Aufenthalt die Gestade des Genfersees verließ, um sich in Frankreich niederzulassen, schrieb er: „Mit schwerem Herzen sage ich dem Waadtland Lebewohl, jenem Land, in dem ich so treue Freunde gefunden habe, die mir halfen, die schweren Jahre des Krieges zu ertragen. Ich werde diesem Lande in meinem Herzen immer ein Gefühl zärtlichen Gedenkens bewahren.“ Es wäre eine schöne Aufgabe für das Festival von Montreux, in einem geschlossenen Zyklus alle jene Werke Strawinskys aufzuführen, die hier vollendet oder konzipiert wurden.

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