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Musikerziehung im Konzertsaal

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Das bildnerische, wenn man will, erzieherische Moment öffentli-her Vorfühtungen ist im Musikleben von größter Bedeutung und seine gelegentliche Betonung daher berechtigt. Ist es doch nie der Lernende allein, der lernt, vielmehr rückwirkend der Lehrende in gleichem Maße. Dieser Erkenntnis trägt, zunächst als hübsches Geschenk für unsere Kleinen, das Sammelwerk „Die Sonatine“ Rechnung, aus dessen drittem Band (Zeitgenössische Komponisten) der Mitherausgeber Erwin Christian Scholz in einem Hauskonzert des Verlages Döblinger einige Proben spielte. Die leichtfaßliche und ausführbare Form der Sonatine erweist darin, mit neuartigem Inhalt belebt, ihre alte unverminderte Wirkung. Joseph Lech- thaler, Hans Bauernfeind, Robert Fanta, Ernst Ludwig Uray und andere Komponisten der Gegenwart wußten reizvolle Musik in Kleinformat zu schaffen und damit Gehör und Empfinden der Kleinen (sowie der Großen) unmerklich der zeitgenössischen Musik näherzubringen. Musikerziehung durch erzieherische Musik.

Stärkere pädagogische Auswirkung ergeben die Studioabende der Orgelklasse Karl Walter an der Akademie für Musik. Scharf distanziert von landläufigen Schülerkonzerten, zeigen sie den Meister in engster Verbindung mit seinen Scholaren, die Zuhörer in den Arbeitskreis einbeziehend, alter und neuer Orgelkunst von Hofhaimer bis Hindemith als geistigem Besitz und handwerklich-technischer Leistung gerecht werden. Jedes Stück, vom Lehrer in seiner zeitlichen Wurzel und überzeitlichen Wirkung eingeführtj einem Schüler (oder einer Schülerin) zur praktischen Aufgabe gestellt, wird in ganz anderer Weise, tiefer und erfüllender als im Konzertsaal, zum Erlebnis. Choralvorspiele stehen sinngemäß zwischen gesungenen Liedstrophen. Abschließend beseelt der Künstler, über erklungene Themen frei improvisierend, die „Stunde“ durch schöpferische Eingebung. Musikerziehung im vornehmsten Sinn: der Schüler durch den Kontakt mit den Zuhörern, jener durch den Einblick in die arbeiterfüllte „Werkstatt“.

Prof. Leo Lehner führte mit der am Berner Jugend-Singtreffen teilnehmenden Auswahlgruppe der Chorvereinigung J u n g- Wien Proben des Programms vor und bewies wie stets seine außerordendiche chorerzieherische Begabung. An Klarheit der Linienführung, Sorgfalt der Textbehandlung, überlegtem Einsatz der stimrnlidien und dynamischen Mittel ist dieser in doppeltem Sinn junge Chor kaum zu überbieten. Jede Phrase zeugt von ernster und ernstgenommener Arbeit, die weitab liegt von Gesangvereinsromantik und liedertafelndem Dil- lettantismus. Manches Problem chorischen Singens wird dem Hörer erst durch seine Bewältigung offenbar und läßt Liedwahl und Vortrag in anderem Lidit erscheinen.

Eindrücke ähnlicher Art vermittelte das Konzert des Wiener Lehref-a-cap- pella-Chores unter Leitung von Reinhold Schmid und Josef Böhm. Der geringen Sängerzahl entsprechend, vermied die Vortragsfolge in kluger Bescheidung zunächst problematische Kompositionen (als deren Lanzenbrecher sich der Chor Verdienste erwarb), führte indes die dargebotenen Werke in meisterhafter Ausdeiftung auch der kleinsten Motive zu nahezu neuheitlichem Erfolg, wobei durch sorgsame Vokalisation sowie durch die orgelmäßige Stimmengruppierung in gedeckte, gambische und prinzipale ungewöhnlich feine Differenzierungen gelangen. Das Fehlen jugendlich blühender Stimmen kann allerdings durch nichts ersetzt werden, was der mitwirkende Chor der Wiener Sängerknaben überzeugend genug bewies. Auffüllung aus Junglehrerkreisen wäre dem Lehrer-a-cappella-Chor wie den Junglehrern zu wünschen.

Der tschechische Cho r „Lu m i r“ sang mit bescheidenen Mitteln, aber um so größerer innerer Belebtheit slawische Volks lieder, deren schlichte Ausdruckswelt und eigenartige Rhythmik er zu unmittelbarer Wirkung brachte. Manchmal schien das vom temperamentvollen Dirigenten Andreas Hnatyschyn angemessene orchestrale Nationalkostüm ein wenig zu bombastisch, die vokale Bearbeitung allzu effektvoll; keinem Takt jedoch fehlte, durch Tamara Dragans überragende Leistung zu künstlerischen Höhepunkten gesteigert, die überzeugende Kraft seelischer Dynamik, auch in der fremden Sprache vernehmbar. Der Gewinn: was vom Volke kommt, verbindet die Völker. Über aJle musikalische und andere Praxis hinweg

Was in leichtester Unterhaltungsmusik an erzieherischen Werten stecken kann, bewiesen die Darbietungen der Geschwister Schmidt, die in ihren Songs und ähnlichen Gebilden diesem reichlich epigonalen Gebiet neue, dem Volkslied und Kindermärchen entstammende Impulse zu geben verstanden und daneben den anschaulichsten Beweis dafür, daß auch die leichteste Musik — und besonders diese! — ernstester, fast dressurartiger Arbeit bedarf, um Kunst zu sein. Welche Sauberkeit und Exaktheit in den die Jazzinstrumente nachahmenden Passagen und rutschenden Akkorden! Welche außerordentliche Deutlichkeit der Textausspradie selbst in bewegtesten Tempi! Aber auch welcher Unterschied zwischen ihren volksverbundenen Versen und Weisen und unseren ewig gestrigen Schlagern! Eine von Horst Winter in der Bearbeitung des Gutenachtliedchens versuchte Synthese mißlang völlig. Die Stile mischen sich so wenig als die Stimmen. Die Schweizer sind zu rotbäckig für unsere Verschmocktheit. Sie und das begeisterte, den Konzerthaussaal bis zum letzten Platz füllende Publikum erteilten unseren leichten Musikmachern recht eindringlichen Musikunterricht.

Ein Kontrast: Konzert der Bläser vereinigung der Wiener Philharmoniker. Hindemith und Alfred Uhl zwischen Mozart und Beethoven. Keine nur „vergnügliche“ Musik, obwohl das aufgeführte Werk von Uhl so heißt, sondern ernste Kunst. Haltung und Niveau selbstverständlich. Das Publikum (freilich eine

Auslese) ist nicht so lärmend begeistert als beim „Schnäwittli und die sieben Zwärge“. Der Beifall ist gelassener — und beglückter. Die Erkenntnis, daß unter uns lebende Komponisten neben Mozart und Beethoven bestehen können, wenn auch in ehrfürchtiger Entfernung und einander nicht gleichwertig, bedeutet Verantwortung und Verpflichtung. Stärkstens beeindruckt notiert man immerhin, daß die Substanz der klassischen Werke in ihrem Verlauf immer dichter, bei den Neuen immer dünner wird. Und doch ist man den Meistern der Interpretation dankbar für die Betreuung der Neuen und den damit erbrachten Beweis, daß die hohe Kunst kein geschlossener Garten ist, zu dem der Schlüssel verlorenging.

Erweisen sich Haltung und Disziplin der Ausführenden als unerläßliche Grundlage aller künstlerischen Arbeit, so gilt dies im gleichen Ausmaß für das Publikum. Es wird Zeit, das allerorts eingerissene, vielfach den Beginn verzögernde Zuspätkommen ari den Pranger zu stellen. Wer Disziplin fordert, ist seinerseits dazu verpflichtet. Die Schwierigkeiten der Ausführenden, rechtzeitig zur Stelle zu sein, sind oft erheblich größer als die mancher Zuhörer. Kunst ohne Opfer hat es nie gegeben. Die Achtung vor dem Künstler drückt sich nicht nur im Händeklatschen aus, sondern viel überzeugender in Haltung und Pünktlichkeit des Zuhörers. Ein Verlassen des Saales während der Darbietung, wie es vereinzelt bei Stra- winskys „Geschichte vom Soldaten“ vorkam, beweist noch nichts gegen Strawinsky, aber sehr viel gegen die Störer und ihre überhebliche Ansicht, die Musik höre mit ihrem Verstäridois auf. öffentliche Kritik bleibt Sache der Kritiker und wird ihnen zuweilen übel genug genommen. Jüngst soll sogar einer von einem Komponisten tätlich insultiert worden sein, weil er sein Werk nicht lobte. Ein allenfalls untaugliches Beispiel von „Musikerziehung“.

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