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NEUE MUSIK IN POLEN

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Das Musikleben in Polen kann durch die Sprache der Zahlen eindrucksvoll illustriert werden. Zehn philharmonische und neun symphonische Orchester, die zweieinhalbtausend Konzerte im Jahr geben, bedeuten sehr viel in einem Lande, dessen soziale Umschichtung — der Zustrom ländlicher Bevölkerungsteile in die Städte — sich überaus rasch vollzieht. Die mehr als 7000 jährlichen Konzerte von Solisten, hervorragenden Künstlern aus dem In- und Ausland, verleihen der Feststellung zusätzliche Beweiskraft, daß in dem dreißig Millionen Einwohner zählenden Polen die Rückstände auf dem Gebiet der Musik, die eine Folge der Unterbrechung des Musiklebens während der Hitlerokkupation und der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes in der Nachkriegszeit waren, in raschem Tempo aufgeholt werden konnten.

Auf der bunten Landkarte des Musiklebens Polens kann der scharfe Beobachter einige im Sinne des Kulturschaffens wichtige Musikzentren entdecken, wie zum Beispiel Poznan, seit Jahren Sitz des Wienawski-Wettbewerbes, der hervorragende Violinvirtuosen von Weltruf anzieht. Die Baltische Oper, deren Ballett sich im vergangenen Jahre den Musikkritikern Europas im Rahmen der Festspiele der zeitgenössischen Musik in Warschau vorstellte, hat zu den großen Musikereignissen Polens viel beigetragen. Erwähnenswert ist das lebhafte, vom Geist der Avantgarde beseelte und daher diskussionsanregende Krakauer Musikzentrum, in dem junge, aber in den Konzertsälen bereits anerkannte Komponisten ihr Schaffensgebiet haben. Sogar in den in sozialer Beziehung ganz neuen Städten Westpolens, wie Breslau und Stettin, geben die philharmonischen und symphonischen Orchester durchschnittlich sechzig bis hundert Konzerte im “Jahr, wobei sich das Repertoire kaum von jenem unterscheidet, welches dem anspruchsvolleren Warschauer oder Krakauer Publikum geboten wird.

■p^as Zentrum des Musiklebens Polens war und bleibt weiter-hin Warschau, die Hauptstadt des Landes, und die in ihr alljährlich stattfindenden, „Warschauer Herbst“ benannten, Festspiele sind gewissermaßen das Symbol des Reichtums an musikalischen Formen und Inhalten.

Die internationalen Festspiele der zeitgenössischen Musik im Rahmen des „Warschauer Herbstes“ leisteten bereits einen bedeutenden Beitrag zur Popularisierung der Musik. Sie stellen eine wertvolle Musikerziehung für das polnische Volk dar und machen die Zuhörer mit dem Musikschaffen unseres Jahrhunderts (von den Klassikern des zwanzigsten Jahrhunderts über die Musik verschiedener Nationen bis zu den neuesten Darbietungen der musikalischen Avantgarde) bekannt und bringen Darbietungen ausländischer Ensembles und Solisten. Das Programm des vor vier Jahren $ffityÜ$g$&t erst^Jir.'s-Warschauer-Herbst“-FestivaIs beinhaltet vor allem die typischen Repertoirebeiträge aus der zeitgenössischen Musik von Strawinsky, Prokofieff, Bartok und aus der polnischen Musik von Szymanowski sowie Werke von anderen führenden polnischen Komponisten. Es bot also einen Querschnitt durch das Musikschaffen unseres Jahrhunderts und einen Rückblick auf das polnische Musikschaffen desselben Zeitabschnittes.

Die nachfolgenden Festspiele (in den Jahren 195g, 1959 und 1960) erfaßten in ihrem Rahmen auch gewisse moderne Stilrichtungen. Während die sogenannte klassische zeitgenössische Musik weiterhin im Programm einen gebührenden Platz einnahm, traten gleichlaufend mehr Werke aus den Nachkriegsjahren und der letzten Zeit in den Festspielprogrammen in Erscheinung, Werke, die die neuesten und aktuellsten Richtungen des Musikschaffens in der Welt repäsentieren. In den Jahren 1958 bis 1960 zeichneten sich ziemlich wesentliche Stilwandlungen in der polnischen Musik ab. (Unter anderem die Elektronenmusik und die konkrete Musik.) Sie trugen zur Entwicklung und Bereicherung des Musikschaffens von Komponisten wie Grazyna Bacewicz,

Witold Lutoslawski, Tadeusz Baird, Kazimierz Serocki, Boleslaw Szabelski, WJodzimierz Kotonski und anderen bei.

T nteressante Beiträge der jüngsten Generation polnischer Kompo-nisten (Henryk Görecki, Krysztof Pendrecki, Boguslaw Scheaf-fer) bereicherten das Gesamtbild des polnischen zeitgenössischen Musikgedankens durch neue Konzeptionen. Eine gewisse Orientierung in der „Musikgeographie“ der modernen Welt gibt die Möglichkeit, die Programme der Warschauer-Herbst-Festspiele derart zu gestalten, daß der Musikliebhaber die verschiedenartigen „Richtungen“ wahrnehmen kann. Gerade unter diesem Gesichtspunkt wurde das Programm der vorjährigen V. Festspiele des „Warschauer Herbstes“ zusammengestellt, die die Musiksaison 1961/62 auf traditionelle Weise einleitete.

Die Anziehungskraft der V. Internationalen Festspiele der zeitgenössischen Musik „Warschauer Herbst“ (16. bis 24. September 1961) war noch größer als die der vorangegangenen Festspiele. Neben der konsequent dargebotenen, klassischen zeitgenössischen Musik (Berg, Schönberg, Bartök, Webern, Strawinsky) wurden die Werke des vor kurzem „entdeckten“ 77jährigen Komponisten Edgar Varese gespielt. Ferner wurde ein Querschnitt durch das Schaffen der Musikavantgarde dargeboten, unter anderem durch das der Komponisten Nono, Boulez, Berio, Stockhausen, Cage, Klusak. Die polnische Musik war vertreten durch die Werke des zeitgenössischen Klassikers Karol Szymanowski, dessen fünfund-zwanzigster Todestag sich heuer jährt, und durch die verschiedenartigen Werke der führenden Komponisten der modernen Musik von Bacewiczöwna, Lutoslawski, Baird, den in Paris lebenden Spisak, Rudziüski und Szabelski bis zu den Vertretern der jüngsten Generation der Musikschaffenden, Gorecki, Penderecki, Schaeffer und anderen. Gleichzeitig bot das Programm eine repräsentative Auslese aus den Werken von Tonkünstlern wie Poulenc, Britten, Schostakowitsch sowie Ravel und Debussy.

Ähnlich wie in den vergangenen Jahren brachte auch dieser „Warschauer Herbst“ eine Anzahl von Attraktionen, wie unter anderem das Kammerorchester „die reihe“ (Wien), den hervorragenden Flötisten Severino Gazzeloni (Italien), den Tenor Peter Pears mit Benjamin Britten (England1) am Flügel, ferner ein Konzert auf zwei Klavieren der Brüder Kontarsky aus Westdeutschland, und zwei hervorragende Quartette, das Borodin-Quartett aus der UdSSR unnd das Novak-Quartett aus der Tschechoslowakei sowie das Philharmonische Orchester aus Sofia und das Ballettensemble des Opern- und Ballettheaters in Peking.

TJ s verdient hervorgehoben zu werden, daß die Schaffung eines ständigen Treffpunktes für die Vertreter der verschiedenen Richtungen des zeitgenössischen Musikschaffens in Warschau zum Zwecke der Gegenüberstellung von Auffassungen und des Meinungsaustausches sowie zur Anknüpfung von Kontakten zwischen den Musikern der verschiedenen Nationen den polnischen Musikwerken und ihren Interpreten half, den ihnen gebührenden Platz im internationalen Musikleben einzunehmen.

Es genügt zu erwähnen, daß die Werke Grazyna Bacewicz' in der laufenden Saison in New York, Moskau, London. Wien, Mancher ter, Zagreb und Prag gespielt wurden. Die Kompositionen von Tadeusz Baird erfreuten sich eines nicht geringeren Erfolges in Brno, Ljubljana, Buenos Aires, Milwaukee (USA), in Paderborn, im Westdeutschen Rundfunk und in Darmstadt. Die Werke eines der hervorragendsten polnischen Komponisten der Gegenwart, Witold Lutoslawski, gelangten in dem erwähnten Zeitabschnitt in San Franzisko, Montreux, Kopenhagen, Venedig, Köln, Stockholm, Baden-Baden, Lissabon und Hannover zur Aufführung. In dieser Saison fanden übrigens sogar Uraufführungen von einigen polnischen Werken im Ausland statt.

Untrennbar mit den Erfolgen der Konzerte verbunden sind die Leistungen der Solisten wie Stefania Woytowicz (Sopran), Wanda Wilkomirska (Violine), Barbara Hesse-Bukowska, Halina Czerny-Stefanska, Regina Smedzianka (Klavier) sowie die des Pianisten Wladyslaw Kedra, der in der Klavierklasse der Musikakademie in Wien unterrichtet, ferner die der Dirigenten Witold Rowicki, Stanislaw Wislocki, Andrzej Markowski, die dem Publikum zahlreicher Länder bekannt sind, und schließlich die Leistungen der Musiker der jüngsten Generation, Stompel, Morski, Nieman, Sloraiowna und anderer Preisträger vieler internaltionaler Musikwettbewerbe.

Polen wird von zahlreichen hervorragenden ausländischen Interpreten besucht, die nicht nur im Großen Saal der neuerbauten Warschauer Philharmonie Konzerte geben, sondern auch die Konzertsäle Westpolens, die Städte Schlesiens, also Gebiete mit der größten Industriedichte des Landes, aufsuchen. Dies gibt dem für diesen Bereich des kulturellen Lebens neugewonnenen Publikum Gelegenheit, die besten Solisten zu hören. Eine wahre Sensation im polnischen Musikleben verursachte die Nachricht, daß der vor kurzem in Polen weilende Igor Markevitch die Absicht hat, wiederzukommen, um im Jahre 1964 in dem gegenwärtig im Wiederaufbau befindlichen Opern- und Ballettheater in Warschau Biizets Oper „Carmen“ vorzubereiten und zu dirigieren, und zwar mit Bühnenbildern von Picasso oder Salvadore Dali und unter Teilnahme des größten aller lebenden Ballettmeister, Leonid Massin, als Regisseur und Choreographen.

Da wir gerade die Oper erwähnten, müssen wir hinzufügen, daß die Warschauer Oper im Jahre 1963 in ihr neues, ultramodernes Haus, das Große Opern- und Ballettheater, einziehen wird. Das Theater verfügt über einen Zuschauerraum von mehr als 2000 Plätzen. Gegenwärtig ist Bohdan Wodiczko, der Direktor des Operntheaters und hervorragende Musiker und Dirigent, der die letzten zwei Jahre als Gastdirigent in Island weilte, mit intensiven organisatorischen und künstlerischen Arbeiten beschäftigt, deren Zweck es ist, das Ensemble der Warschauer Oper auf die neuen, überaus schwierigen und verantwortungsvollen Aufgaben vorzubereiten. In erster Linie haben die Bemühungen Direktor Wodiczkos zum Ziel, die Oper von einer traditionellen Stätte für „Konzerte in Kostümen“ in ein wirklich zeitgenössisches Operntheater zu verwandeln. Dies erzwingt übrigens das Repertoire, dem sich die gegenwärtige Direktion verschrieb. Den ausgezeichneten Aufführungen von „König Ödipus“ und „Persephone“ von Strawinsky werden Opern folgen wie „Der verlorene Sohn“ von Debussy, „Judith“ von Honegger, „Sacre du printemps“ von Strawinsky, „Antigone“ von Orff, „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss sowie die neuen polnischen Opern des begabten Dirigenten und Komponisten Richard Czyz sowie die Aufführungen aus dem traditionellen Opern- und Ballettrepertoire in moderner Inszenierung.

T_Tier konnte nur von den allgemeinen Erscheinungen die Redesein, von bestimmten Episoden aus dem Konzertsaal und der Opernbühne, während zum Musikleben Polens in seiner Gesamtheit auch Konzerte gehören, die vom Verband Polnischer Komponisten und vom Bund Polnischer Musikkünstler sowie von der Warschauer Musikgesellschaft und von der Chopin-Gesellschaft veranstaltet werden, nicht zu vergessen jene, die int Rahmen der Programme des polnischen Rundfunks und Fernsehens gesendet werden. All dies bezieht sich selbstverständlich auf die sogenannte ernste Musik. Unabhängig davon gibt es eine rege Konzerttätigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltung«- und Tanzmusik und des Jazz, die die Musiksaison mit gleichfalls interessanten Attraktionen bereichert.

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