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Neuerschlossene Musik aus West und Ost

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Es gehört zu den erfreulichsten Anzeichen einer Wiedergesundung unseres Musiklebens, daß die Aussperrung wertvollen Kulturgutes des Auslands behoben ist. Auf diese Weise findet viel Liebgewordenes seinen Weg in unsere Konzertsäle zurück. Aber auch manches Neue gelangt — freilich mit Verspätung — zur Kenntnis des Publikums. Es wird noch eine gute Weile brauchen, bis die Lücken wiederum geschlossen sein werden, die erzw*ungenerweise in das Gegenwartsweltbild des österreichischen Musikfreundes gerissen waren. Sie auszufüllen und im Sinne der Gewähr einer übernationalen Schau den Anschluß an die Zeit wieder zu vermitteln, ist ein wesentlicher Programmpunkt der kulturellen Bestrebungen in der nächsten Zukunft.

Auf dieser Linie lagen bereits auch zwei Veranstaltungen der letzten Wochen, die den Blick auf die französische Musik lenkten. Beide waren der Initiative der österreichischen Kulturvereinigung zu danken. Sie gewann im Verein mit der Gesellschaft der Musikfreunde Roger Desormieres von der Großen Oper in Paris als Dirigenten für ein Konzert der Wiener Philharmoniker und widmete einen Kammermusikabend im Barocksaal des Verlagshauses Doblinger (Herzmansky) ausschließlich Werken von Maurice Ravel. Desormieres brachte sich für den Solopart eines „Concert champetre“ von Francis P o u 1 e n c in dem Komponisten, der zugleich ausgezeichneter Pianist ist, den denkbar besten Interpreten mit.

In den beiden Konzerten zeichnete sich beispielhaft klar die nationale Eigenart des französischen Musikingeniums ab. Ein Philharmonikerkonzert glich einem Anschauungsunterricht zur Entwicklung der französischen Musik seit dem großen Barockmeister Jean Philippe Rameau bis auf die Gegenwart. Wie ein roter Faden zog sich durch das Programm die' innige Beziehung dieser Tonwelt zum Gesellschaftstanz und zur Ballettkunst, die allen Wandlungen im äußeren Habitus zum Trotze stets bestimmend hindurchschimmert. In dem fein ausgewogenen Liniament dieser Partituren gibt sich überall die anmutige, graziöse Geste kund, die als klingendes Pendant zu einem visuellen Eindruck empfunden wird und bis zu einem gewissen Grade auch eines solchen als Ergänzung zu bedürfen scheint. Mag dieser charakteristische Zug besonders inRameaus goldenem Zeitalter der französischen Ballettkunst vorherrschend gewesen sein, so wirkt er doch eingestandenermaßen bis herauf in Gabriel F a u r e s Kunst fort, die mit der Suite „Masques et Bergamasques“ vertreten war, und überträgt sich auf die musikalische Handschrift des russischen Schülers dieses Tonsetzers, Igor Strawinsky, der viel vom Geiste französischer Musik in sich aufgenommen hat. Von ihm lernte man nun als Frucht seiner jüngsten Schaffenstätigkeit in Amerika die „Scenes de ballet B“ kennen. Sie bestätigt eine in den vorangegangenen Werken des Meisters angebahnte Entwicklung des Personalstils, der auf Konzentration der Form und der Besetzung abzielt und auf diesem Wege zu einer Klärung führt. Neu war für Wien der Name Olivier M e s s i a e n. Auch im Konzertwerk „Les Offrandes oubliees“ verleugnet sich in der starken Verinnerlichung und der Selbstzucht nicht die Herkunft des Künstlers, der als Organist der Pariser Trinitätskirche wirkt, von der geistlichen Musik und der Orgel. Den Typus der modernen, rhythmisch gestrafften, objektiv klaren und unsentimentalen Klavierkomposition vertritt Francis Poulenc' „Concert champetre“. Roger Desormieres ist ein von Selbstzucht und klarem Intellekt gebändigtes , Dirigiertemperament von romanischer Prägung.

Maurice R a v e 1 s Schaffen wurde bei Doblinger im Klavierstück und im. Liede gezeigt. Vielleicht offenbart sich doch am Klavier die Kunst dieses großen Impressionisten am überzeugendsten. Das Fluidum von Farbe, Licht, Luft, Welle, Wolke, Wind scheint im Klange des Tasteninstruments vergeistigt, entmaterialisiert, wodurch die Wirkung am reinsten ist. Die unprätenziöse, aller Äußerlichkeiten entratende Art der Wiedergabe durch Alfred K r e m e 1 a kam diesem Umstand entgegen. Die gewichtige • Opernstimme Elena N l k o 1 a i d i s drohte dagegen den mit stilistischer Feinheit vorsichtig in eine Kunstform gekleideten Volksliedern romanischer, hebräischer und griechischer Herkunft etwas gefährlich zu werden.

Der 28. Jahrestag der Gründung der Roten Armee wurde zum Anlaß für ein Festkonzert der Wiener Philharmoniker mit russischer ,M u s l k genommen, wobei vertraute Namen wie Tschaikowsky und B o r o d i n beschworen wurden. Tschai-kowskys Musik hat bei uns im Konzertsaal von den russischen Meistern wohl die weiteste Verbreitung gefunden und von ihr war wieder seit je die „Pathetique“ das bevorzugteste Werk. Es offenbart sich hier ja auch die starke Verbundenheit des Tschaikowskyschen Schaffens mit der europäischen Romantik Umso stärker sprach sich dann in den Polo- wetzer Tänzen Alexander Borodins die Urkraft des nationalen Idioms aus. Als gesangliches Intermezzo waren zwei Arien aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“ mit Hilde K o n e t z n i und Todor Mazaroff der zündenden Borodin-Musik vorangegan-i gen. Josef Krips, der nach längerer Krank-* heit seinem künstlerischen Wirken wieder zurückgegeben ist, weiß um die drastische Vermittlung dieser Kunst Bescheid.

Solche Ausschau nach auswärts läßt, wie es durchaus billig ist, auch der heimischen Meister nicht vergessen. In dieser Hinsicht verdient ein Abend Joseph Marxscher Musik Beachtung. Auch bei diesem Meister läßt sich nach einer wachsenden Expansion in der Anwendung gehäufter Mittel der Weg zur Bescheidung mit gleichzeitiger Intensivierung beobachten. Das Streichquartett „In modo classico“, das von dem Sedlak-Winkler-Quartett mit viel Hingabe zelebriert wurde, gibt davon Zeugnis. Im übrigen war das Programm mit Liedern bestritten, die der Meister selbst auf dem Klavier begleitete. Lorna Sidney gibt dem Vokalpart ihre differenzierte Gesangskunst und ihre auf Bühnenwirkung abzielende Mimik und bleibt den Werken damit doch etwas schuldig: den idealen Liedstil, die kammermusikalische Besinnlichkeit, die auf alle äußerliche Zutat verzichten kann, ja durch sie nur verschüttet wird.

Solchen Vorwurf kann man auch Irmgard S e e f r i e d nicht ganz ersparen, die sich verdienstlicher Weise mit Anton D e r m o t a zu einem geschlossenen Abend mit Hugo Wolfs „Italienischem Liederbuch“ zusammentat. Obwohl hier die Empfindungsintensität durchaus echt ist, sprengt sie doch gelegentlich den Rahmen des liedmäßig Kammermusikalischen, der einer Distanz gedämpfter Objektivierung nicht entraten kann. Dem lyrischen Grundton des Werkes blieb Der-mota dagegen durchgehends getreu und verhütete so, daß Theaterszenen in den Konzertsaal verlegt wurden. Recht günstig war die Gruppierung der Gesänge, die ja vom Komponisten nicht als Zyklus gedacht sind, aber nur in einer solchen Reihung zur vollen Geltung gelangen. Sopran und Tenor lösten sich hier in überzeugend wirkendem Widerspiel ab. Einzig die Stellung des Schlußliedes wirkte etwas abrupt. Hilda B e r g e r -Weyerwald vermittelte, hinter dem Dienst am Werke jeden persönlichen Ehrgeiz zurückstellend, geschickt zwischen den beiden Sängertemperamenten und förderte durch ihre poetische Klavieruntermalung die Einheitlichkeit der Wirkung. Es wäre zu überlegen, ob unter Beiziehung der weggelassenen Nummern des „Liederbuches“ die Wiedergabe nicht auf zwei Abende zu verteilen wäre. i

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