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Österreich in Südosteuropa

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Der Name Südosteuropa für die kompakte Gruppe kleiner und mittlerer Völker zwischen den drei europäischen Großnationen Rußland, Deutschland und Italien, geographisch-schema-tisch durch die beiden kontinentalen Einschnitte Stettin-Triest und Odessa-Königsberg begrenzt, ist keineswegs ein abschließender, vollkommen zutreffender und idealer. Wer freilich nicht politische Falschmünzerei betreiben will, wird gestehen müssen, daß diese so markante Völkergemeinschaft keinen Namen hat, ja daß jeder dafür verwendete Namen problematisch bleibt. Das ist bereits ein altes Uebel. Denn selbst die einzige historisch-politische Titulatur, die wenigstens ihren Kernlandschaften jemals verfassungsmäßig zukam, die Königreiche und Länder des Hauses Oesterreich, umschrieb ein Konglomorat, das es offiziell niemals auch nur zum einheitlichen Begriff des österreichischen Kaiserreiches oder der österreichischen Monarchie gebracht hat, obwohl alle Welt es so nannte.

Der westliche Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, wie die habsburgische Donaumonarchie seit dem Dualismus von 1867 hieß, blieb im Begriff von Cisleithanien, wenn nicht gar noch farbloser in der bloßen Umschreibung der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ stecken, während der östliche Teil, von Wien aus gesehen, Trans-leithanien, sich rühmte, der „ungarische Globus“ zu sein. Dieser war ein grotesker Nationalitätenstaat unter dem Firmenschild eines Nationalstaates, der sich aus einer ganzen Reihe möglicher politischer Nationen zusammensetzte, ein Anachronismus, der die „Länder der heiligen Stephanskrone“ hieß, aber von der Reichsidee des Gründerkönigs, die ein Reich mit vielen Sprachen und Sitten in schöpferischem Staatsbewußtsein vorsah, nicht mehr viel wußte. Organisiert nach ;dem soziologisch-militärischen Prinzip aller Turkvölker (aber auch vieler Germanenstämme), dem Janitscharismus, hat die schmale herrschende Schichte des Madjarentums seine Mischsprache den Nachbarstämmen innerhalb des Karpatenringes aufgezwungen, aber auch die Gebiete außerhalb desselben sich als „Nebenländer“ angegliedert, die dann gewissermaßen auf Grund eines madjarischen character indelebilis auf ewige Zeiten der Stephanskrone angehörend galten. Weniger der katholische Hochadel, der, obwohl am rassenreinsten, auch am stärksten sich europäisierte, als vielmehr die kalvinische Gentry, die vielfach aus madjarisierten Stämmen hervorging, hatte in den aktivsten Elementen immer schon hartnäckigst der Einheit widerstrebt, die auch sie in ihren allumfassenden Schutz nahm: der Einheit der habsburgischen Königreiche und Länder.

In dieser Einheit bildeten die Königreiche der Stephanskrone und der Wenzelskrone die beiden Grundsäulen, während die altösterreichischen ostalpenländischen Erblande mit den Anteilen an der adriatischen Küstenlandschaft, aber auch mit den noch lange festgehaltenen Lieberresten Vorderösterreichs den Mittelpunkt des Völkerkreises ausmachten, an den sich neben Llngarn-Siebenbürgen und Böhmen-Mähren-Schlesien auch noch das „dreieinige Königreich“ Kroatien-Slowenien-Dalmatien, das polnische Erbe, Galizien und Lodomerien, die rumänische Bukowina, das Okkupationsgebiet Bosnien und die Herzegowina, die „Reichslande“, ja vom Ende der Monarchie gerechnet vor kaum viel längerer Zeit, als uns selbst bereits von ihr trennt, auch noch das oberitalienische Doppelkönigtum Lombardei-Venetien anschlössen (in dem Friaul mit Görz-Gradiska, ähnlich wie Triest mit Teilen des Küstenlandes, bereits zum mittelalterlichen Oesterreich gehörte). Wahrhaftig eine kleine Welt, in der vier Jahrhunderte lang und länger üie große ihre Probe hielt.

Gewiß ist vom Standpunkt der Namensgebung festzuhalten, daß nicht nur ganz wesentliche Teile der Balkanhalbinsel immer nur vorübergehend, wenn überhaupt, zur altösterreichischen Kernlandschaf', dem Dreieck Wien-Prag-Budapest, gehörten, sowie daß die Länder der polnischen Krone „vom Meer zum Meer“, von den baltischen über die eigentlichen polnischen zu den ukrainischen Landschaften, einer Dauerverbindung mit dem österreichisch-böhmischungarischen Kerngebilde trotz vielfacher historischer Bemühungen (matrimonialer Natur, wie es den Zeiten entsprach) immer wieder erfolgreich entglitten sind. Das hat freilich nicht zuletzt auf Grund des Bündnisses von Preußen und Rußland, Protestantismus und Schisma gegen das katholische Polen dessen Aufteilung unter die drei Monarchien des Ostens ermöglicht (an der Oesterreich, durch Maria Theresia verkörpert, nur widerwillig teilnahm). Ausgerichtet jedenfalls war die ursprünglich dreigliedrige österreichisch-böhmisch-ungarische Einheit, die nach mehrhundertjährigen politischen Experimenten zustandekam (1526) und trotz der politischen Fehlkonstruktion des Dualismus ideenmäßig infolge der Nationalkraft des Tschechentums als ein in seiner Anlage trialistisches Gebilde bis 1918 existierte, nicht nur auf die föderalistische Union mit den südslawischen slowenisch-kroatisch-serbischen Balkanländern, sondern ebenso auch auf eine mit den litauisch-polnisch-ukrainischen Flußlandschaften, die den schwankenden Uebergang nach Rußland bilden. Ueber diese historischen Realitäten hinaus sahen überdies die (von der römisch-byzantinischen Reichseinheit aus als das sprachlich und rassisch älteste großösterreichische Volk zu betrachtenden) Rumänen in einer bemerkenswerten Kernschichte ihrer Intellektuellen eine mögliche Ausweitung Großösterreichs über Großrumänien auch noch auf die übrigen Balkanländer vor (Aurel C. Po-povici).

Diese historischen Reminiszenzen sind für die älteren Oesterreicher nicht ohne Reiz, für die jüngeren nicht ohne Lehren; für die europäische Realpolitik aber sind sie längst nicht mehr bedeutungslos. Es ergibt sich daraus, daß jene charakteristische Volks- und Geistesgemeinschaft in der Mitte zwischen Rußland, Deutschland und Italien, deren Abkömmlinge man auch heute noch in der ganzen Welt durch eine bestimmte altösterreichische, wienerische geistige Physiognomie erkennen kann, eigentlich aus drei geographisch-historischen Bereichen besteht, die aber doch geistesgeschichtlich zusammengehören: aus dem Dreieck Wien-Prag-Budapest, in dem die Aelteren unter uns in ihrer lugend die Substanz ihres eigentlichen

Vaterlandes fanden, aus der Balkanhalbinsel, auf der wir bewußten Altösterreicher nach unserer Ueberzeugung eine Treuhandschaft zwischen dem Osmanischen Reich und den Balkannationen zu erfüllen hatten, und aus Polen, von dessen Erbe Altösterreich den kulturell fortgeschrittensten Teil, den zwei alte Nationen bewohnten, wieder, wie wir es sehen, nach bestem Wissen und Gewissen ebenfalls treuhändig verwaltet hat. Die innere Schwäche Altösterreichs lag vorzüglich in den staatsrechtlichen Aspirationen Ungarns auf Kosten Böhmens, nicht jedoch in der grundsätzlichen Nichtlösung der Reichsprobleme in den Randländern, um derentwillen sich der Weltkrieg entzündete.

Das historische Verantwortungsbewußtsein der besten Großösterreicher vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten vor 1914, die man das Zeitalter Franz Ferdinands nennen könnte, viele von nicht-deutscher Nationalität (wie auf den Spuren des Tschechen Palacky der Rumäne Popovici und der Slowake Krek), mehr noch von bloß nicht-deutschem Ahnenerbe (Kralik, Lammasch, Kunschak, Orel), manche aus Deutschland stammend (Abel, Zacherl, Mauss, Förster, Eberle), altösterreichische Aristokraten (Polzer-Hodiz), wie deutsch-jüdische Intellektuelle (Redlich), die bedeutendsten freilich aus donauländisch - alpenländisch - österreichischem Stock (Lueger, Bahr, Lux, Renner, Funder), gab allerdings dem Völkerkonglomerat, zu dem sie sich als ihrem Volkstum bekannten, deshalb noch keinen gültigen Namen.

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