6581832-1951_22_01.jpg
Digital In Arbeit

Osterreichs historische Stunde

Werbung
Werbung
Werbung

Der Weg der Völker durch die Geschichte wird durch besondere Stunden gekennzeichnet, wo die von den Führern der politischen Willensbildung zu fällenden Entscheidungen das individuelle Schicksal Hunderttausender, ja Millionen Menschen auf unabsehbare Zeit bestimmen können. Es sind Stunden, wo nicht der absolute Wille zur Macht, nicht das ökonomische Gesetz den Ausschlag geben, sondern die verstandesmäßige oder doch zumindest gefühlsmäßige Erfassung jener geistigen Hintergründe, von denen allein die Impulse zur Gestaltung des gesellschaftlichen Seins ausstrahlen.

Wer möchte leugnen, daß sich die Welt heute nicht an einer schicksalshaften Wende befindet? Die Welt, das ist nicht der geographisch umrissene Begriff der Kontinente, nicht die politisch und wirtschaftlich umgrenzte Struktur, unter der sich das Leben der einzelnen Völker vollzieht, sie ist vielmehr der grenzenlose, in die Tiefen der menschlichen Seele hineinwachsende geistige Raum, das „ewig bewegte Reich“ geistiger Strömungen und Potenzen, die um die sehr reale Durch-6etzbarkeit ihrer Ideengehalte ringen — und auch willensmäßig dazu angetreten sind.

Auch Österreich ist diesem universalen geistigen Raum verhaftet, in dem letzten Endes das Grundsätzliche jeder gesellschaftlichen Neu- und Umgestaltung entschieden wird. Es ist eine ganze Skala besonderer geistiger und materieller Werte, die den gesellschaftlirhen Bau tragen, ihren Ausdruck in den verschiedensten politischen und wirtschaftlichen Organisationsformen finden und in ihrem Zusammenwirken das persönliche Schicksal des einzelnen formen, wobei es für diese Gestaltung auf die Rangordnung der Werte ankommt, die den gesellschaftlichen Wesensinhalt bestimmen. Hiebei wird es nicht gleichgültig sein, von welcher Wertebene aus sich die Gesellschaft aufbaut beziehungsweise auf welchen Wert alle übrigen Teilinhalte bezogen werden, denn in dieser vielfältigen Zuordnung ist das Leben des einzelnen Staatsbürgers eingeschlossen. Hier ergeben sich grundsätzliche Fragen. Soll der Mensch — wenn die Weit der materiellen Werte zum höchsten gestaltenden Prinzip erklärt wird — nur Teil eines unifassenden Produktionsprozesses sein und seine gesellschaftliche Stellung schicksalhaft von diesem bestimmt werden oder soll er im Rahmen der durch göttliches und Natur-Recht gezogenen Grenzen Anspruch auf die Respektierung seiner Eigenpersönlichkeit, auf Freiheit und menschliche Würde haben? Soll der soziale Fortschritt, wenn auch unter tausend Schwierigkeiten und manchen menschlichen Unzulänglichkeiten, in zielbewußtem gemeinsamem (das heißt alle Volksschichten umfassenden) Fortschreiten oder durch einen Gesellschaftsbruch erreicht werden, dessen Folgen für die heutige Generation tausendfache Not und Elend, für die nächsten Generationen aber wohl der Weg ins Dunkle wäre?

Dies alles sind Fragen, die im geistigen Raum und nicht zuletzt in der Empfindungswelt des einzelnen Menschen wurzeln und nunmehr eine klare und eindeutige Antwort erfordern.

Gewiß — in dem gewaltigen Aufmarsch der weltpolitischen Kräfte nimmt sich das österreichische Geschehen nach außen hin recht bescheiden und bedeutungslos aus; nach innen gesehen drängt sich jedoch wie kaum zuvor in diesen wenigen Stunden die gewaltig Problematik unerer Zelt zusammen, von der sich auch Österreich in den weltweiten Zusammenhängen nicht distanzieren kann und auch nicht verschont bleibt. Auf dem grandiosen Hintergrund des gesellschaftlichen Aufbrüchs der Weltbevölkerung — in Asien allein mehr als eine Milliarde Menschen — gewinnt jeder Beitrag, jedes Bekenntnis zu einer in zwei Jahrtausenden herangereiften gesellschaftlichen Ordnung und zu ihren hohen sittlichen Werten an Bedeutung.

Die Versuche, die bisher zur Abwehr einer gesellschaftlichen Katastrophe gemacht wurden, bewegen sich auf verschiedenen Gebieten; entweder sind es zwischenstaatliche Gespräche oder wirtschaftliche Integrationsbestrebungen größeren Stils oder interkontinentale Anstrengungen zur Bekämpfung von Hunger und wirtschaftlicher Not; sie gehen von der Voraussetzung aus, daß Ideen, die aus Elend geboren und durch Elend systematisch genährt werden, durch Besserung der allgemeinen Lebenshaltung gebannt werden können. An diesen Erwägungen ist sicher vieles richtig, doch wird hier nur zu leicht übersehen, daß es nicht genügt, eine Gesellschaft von der rein materiellen Seite her aufzuhauen und sie .widerstandsfähig“ zu machen, sondern daß dem ersten Schritt der „materiellen Besserstellung“ die viel wichtigere Ergänzung von der geistig- seelischen Seite her folgen muß, das heißt der bewußte Einsatz der heute noch in Europa wirksamen und wirkenden universellen geistigen Kräfte; diese Kräfte sind (ebenso wie der kommunistische Materialismus) vor allem weltanschaulich ausgerichtet; sie wachsen aus gemeinsamen historischen und kulturellen Wurzeln, sie quellen aus den ewigen Wahrheiten des Christentums, sie wenden sich in brüderlicher Liebe jenen zu, die die Not des Tages niederbeugt ' und die daher das Recht auf erhöhten Schutz der Gesellschaft genießen. Diese Kräfte sind auf den höchsten Wert — auf Gott — zugeordnet, vor dem alle Menschen als Träger einer unsterblichen Seele wohl gleich, ctoch gemäß ihren Anlagen und Aufgaben und gesellschaftlichen Bindungen unendlich differenziert sind; sie schöpfen ihre Stärke aus dem Heimatboden und den natürlichen Ordnungsprinzipien der Familiei sie allein sind der einzige wirksame Gegenpol gegenüber einer Welt totalitärer Maschinenmenschen.

Die Entscheidung, zu der Österreich am 27. Mai als“ Teil des alten Europa aufgerufen ist, ist daher im Grunde keine Entscheidung auf politischer Ebene, sondern eine grundsätzlich geistige; sie abstrahiert von Parteien, ja sogar von bestimmten Perso-nenundfälltinderSeelejedes einzelnen. Sie ist entweder ein Bekenntnis zu den höchsten religiösen, sittlichen und religiösen Werten, die dieser Kontinent in seiner jahrtausendalten Geschichte in höchster schöpferischer Kraft hervorgebracht und der übrigen Welt i reicher Fülle mitgeteilt hat, oder die Wahl eines Weges, an dessen Ende ein Kulturbruch von ungeheurem Ausmaß steht, dessen Umfang in geschichtlicher Zeit wohl nur mit dem Untergang des weströmischen Imperiums verglichen werden kann.

Diese Erkenntnis sollte jede andere kleinliche Überlegung ausschalten. Wo Menschen wirken und planen, dort wird nicht jede Unzulänglichkeit gebannt werden können; sie wird allerdings bei allseitigem gutem Willen — und wenn über das Grundsätzliche Klarheit herrscht — auf ein Minimum reduziert werden können. Worauf es heute ankommt, ist, den tiefen Sinn dieser vielleicht nicht mehr wiederkehrenden Stunde zu erkennen und ihrer historischen Bedeutung entsprechend zu handeln. Ihr sinnfälliges Ergebnis soll nicht nur den Österreichern die engere Heimat, sondern auch allen anderen Europäern die Wiege ihrer alten Kultur erhalten helfen. In diesem Sinne wächst die Bedeutung dieser Wahl zu einem historischen Ereignis allgemeiner Bedeutung empor.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung