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Otzi, der zeitlose Schmerzensmann

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Als sich in Innsbruck Ende Mai eine Runde namhafter Wissenschaftler zu einem interdisziplinären Gespräch zusammenfand, geschah dies von der Presse weitgehend unbemerkt. Nach sechseinhalb Jahren intensiven wissenschaftlichen Forschens auf der einen und viel publizistischer Arbeit auf der anderen Seite gab es so etwas wie eine kulturhistorische Zwischenbilanz. Die Frage nach der allgemeinen Rezeption dieses Fundes wurde gestellt: „Realität - Mythos -Klischee?”

Der Förderkreis des Landesmuseums Ferdinandeum unter Frau Reichert-Facilides hatte die für den Gletscherfund in Innsbruck verantwortlichen Universitätsprofessoren Leander Petzoldt (Ethnologie), Werner Platzer (Anatomie), Konrad Spindler (Vor-und Frühgeschichte) sowie Bernhart Schwenk (Kunstgeschichte) vom Haus der Kunst in München und als Moderator Professor Peter Weiermair vom Frankfurter Kunstverein eingeladen. Anlaß war ein vom Förderkreis ausgeschriebener Wettbewerb um die künstlerische Auseinandersetzung mit dem „Mann im Eis”; die hierzu von Kuratoren ausgewählten Künstler kommen aus der Alpenregion.

Ausgehend vom derzeitigen Forschungsstand ließ sich in Kürze festhalten: Es handelt sich um die älteste je gefundene Feucht-Mumie, deren Alter mit rund 5.000 Jahren angenommen werden darf. Der Tote war nicht bestattet. Er trägt Tätowierungen am Körper und war mit Bekleidung und einigen Geräten ausgestattet. Die Mumie ist medizinisch unter anderem mit speziell angefertigten Titaninstrumenten endoskopisch untersucht und prähistorisch und ethnologisch eingeordnet. Wissenschaftlich, finanziell und technisch wurde und wird der Fund auch weiterhin aufwendig betreut, die Frage nach der Konservierung für künftige Forschergenerationen ist jedoch noch offen. Eine nüchterne Bilanz, wie es scheint, zu der die Publizität des Fundes geradezu im Widerspruch zu stehen scheint.

Daß es für die Prähistoriker vergleichsweise bedeutendere Schätze gibt, wurde besonders betont, so der fürstlich ausgestattete Keltenfund Glauberg in Hessen, von dessen Entdeckung und weiteren jüngst ergrabenen Artefakten die Öffentlichkeit jedoch kaum Notiz genommen hat.

Wie sehr sich um den Gletschermann ein dichtes Netz von Vorstellungen und Spekulationen geknüpft hat, ist hinlänglich bekannt. Auch seiner Vermarktung scheinen keine Grenzen gesetzt: vom wenig ansehnlichen Toten zum verniedlichten „Ötzi” gewandelt, prangt er auf T-Shirts, wird zum Gummibärchen und dient Narren als Kopfbedeckung. Bald schon reiht er sich in einer vierteiligen Comic-Serie als Held neben „Asterix und Obelix” ein.

Was ist es aber, das diesen Mann aus dem Eis so faszinierend gemacht hat? Ist es das archaische Alter, über das zunächst gerätselt wurde? Immerhin lebte er, als in Ur das große Zeitalter begann und noch bevor die I Iochkulturen in Ägypten entstanden. Oder ist es sein Fundort in der Einsamkeit ohne Grab? Ist es sein Aussehen eines zeitlosen Schmerzensmannes oder ist es das Namenlose seiner Person? Gewichtige Fragen, die aber das kollektive Bewußtsein nicht beunruhigen. Nahezu jeder kennt ihn, aber mit Ausnahme der Fachwelt freilich nur sein Bild. Entsteht hier möglicherweise ein Mythos in einer Zeit von höchster Batio-nalität, in der die Augen täglich mit Greuel- und Gewaltbildern gefüttert werden?

Ethnologen und Volkskundler verweisen auf Mythenbildungen etwa in den Alpensagen des 19. Jahrhunderts, in Zeiten epochaler Abschnitte, die mit apokalyptischen Ängsten und Visionen einhergehen, wie Jahrhundertoder Jahrtausendwende, in denen Sekten, Mittlergestalten und Heilsträger aller Rationalität zum Trotz ihre Wirkungen nicht verfehlen. Für den Mann im Eis sei schon in seiner Bezeichnung auf die Deu -tung zu schließen: neben der wissenschaftlich nüchternen „Gletschermumie” haftet den Ausdrücken „Mann vom Simi-laungletscher”, „vom Hauslabjoch” etwas Poetisch-Singuläres an, der Ort seines Fundes schwingt fast geheimnisvoll mit. Das naiv-populäre Diminutiv eines Ötztalers als „Ötzi” hingegen verweist auf die Region im Tenor eines einheimischen Hinterwäldlers, macht ihn vordergründig vertraut. „Ötzi” wird aus dem historischen Kontext herausgelöst und damit zeitnah und doch nirgends zu greifen, im allgemeinen Bewußtsein präsent, als Klischee ein für allemal festgelegt.

Die Vereinnahmung des Gletscherfundes durch die Medien bis hin zu dem populistischen Versuch, die Mumie als Fälschung entlarven zu wollen, hat die Wissenschaft zwar registriert, sie hat sich aber ausdrücklich nicht in Diskussionen eingeschaltet und etwa eine Widerlegung der Fälschungstheorie in Angriff genommen. Ohnehin haben sich solche Sensationsmeldungen bald von selbst erledigt.

1 )ie Reaktion der Wissenschaft auf die Auseinandersetzung der Künstler mit dem Gletscherfund war einhellig positiv. Die künstlerische Aussage sollte sich möglichst vom realen archäologischen Fund entfer nen. Die Jury des Wettbewerbs hat aus den eingesandten Arbeiten jene mit der Realisierung ausgezeichnet, die diese Distanz mit Materialien der Gegenwart erreicht haben. Dem Werbespot von „Nivea” als Klischeeversprechung von zeitloser Schönheit werden täglich anfallender Staub und Schmutz im Zeichen von Vanitas gegenübergestellt (Hubert Matt, Bregenz). In unterschiedlich großen Glaspfützen spiegelt sich derjenige, der auf sie hinabschaut und wird damit „auf seine eigene Zeitlichkeit verwiesen” (Ulrike Lienbacher, Salzburg). Das Transitorische von licht als Neonröhre zwischen stehenden Glasplatten steht zugleich für Nähe und Ferne zum Mann im Eis, je nach Standpunkt des Betrachters - das wohl meditativste Kunstwerk (Hannes Vogel, Graubünden).

Aufsehenerregende Funde der Archäologie haben wiederholt die Menschen, Künstler und auch Schriftsteller, in ihren Bann gezogen. Man denke nur an die Grabungen in Pompeji seit 1748. Der Anblick der später mit Gipsfüllungen konservierten menschlichen

I lullen in der Haltung ihrer Todesstunde mag die Betrachter damals mit größerem Schauder erfüllt haben als die ihnen seit Jahrhunderten in Kirchen vertrauten Reliquien, die als Kultgegenstände die Aura der Unnahbarkeit besaßen.

Die Künstler der Gegenwart haben sich, vermehrt seit den siebziger Jahren, immer wieder mit archäologischen Funden (wie Anne und Patrick Porier), mit Mythen und individuellen Mythologien (wie Beuys) auseinandergesetzt. Aspekte von Körper, Leid und Vergänglichkeit (Francis Bacon), die Hinterfragung des eigenen Ich (etwa von Katharina Sieverding) waren und sind wieder das 'Thema. Dabei ist unübersehbar, daß nicht irgendeine Körperlichkeit thematisiert wird: der Künstler selbst steht im Mittelpunkt (wie in der Body Art seit Ende der sechziger Jahre bis hin zum

Wiener Aktionismus).

Eine künstlerische Bezeption des Mumienfundes am I lauslabjoch hätte es ohne Wettbewerb, das heißt ohne konkreten Auftrag nicht gegeben. Ein Thema, das von den Medien ausgeleuchtet und in teils schillernden Facetten dargestellt worden war, schien für die Kunst unbrauchbar geworden zu sein. Daher ist es von 14 teilnehmenden Künstlern letztlich nur den drei genannten gelungen, vom konkreten archäologischen Befund losgelöst zu inhaltlich übergreifenden Aussagen zu kommen. Diese allerdings bieten vielfältige Ansatzpunkte, um über einen Mythos zum „Mann im Eis” nachzudenken.

Aber auch die Realität ist wichtig. Wenn die Gletschermumie eines 'Tages aus der Kühlung der Innsbrucker Anatomie nach Bozen transferiert wird, sollte man dort vorher bedenken, daß ihre Konservierung vorrangig der Wissenschaft dienen sollte. Als Ausstellungsobjekt ist sie weniger geeignet als die informativen Bekleidungsreste und Gerätschaften. Die Kultfigur „Otzi” aber könnte als virtuelle Gestalt, entsprechend bekleidet und ausgerüstet, mit federnd-geschmeidigem Schritt über die Gipfel wandern: ein männlicher Star „Im Club der Untoten”, wie Bernd Graff ihn jüngst in der Süddeutschen Zeitung vorgestellt hat.

Eine humane Chance für den „Mann vom Hauslabjoch”, aber auch für die Wissenschaft. Eine Chance darüber hinaus, überkommenes Kulturgut nicht bloß voyeuristisch zur Schau zu stellen.

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