Picasso, die Camera und das neue Sehen

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Der Tango der Malerei mit der Wirklichkeit - und die Fotografie als Tanzlehrer.

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Der Tango der Malerei mit der Wirklichkeit - und die Fotografie als Tanzlehrer.

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Pablo Picasso starb vor einem Vierteljahrhundert in Mougins. Neues, bisher Unbekanntes über ihn? Die Künstlerbiographie des 20. Jahrhunderts schlechthin - noch immer kein völlig ausgereiztes Thema? Angesichts wahrer Gebirge von Picasso-Literatur? Das war wohl kaum zu glauben - bis zum Erscheinen des Buches "Picasso und die Photographie - Der schwarze Spiegel" von Anne Baldassari, das mittlerweile beim Münchner Verlag Schirmer/Mosel auch auf deutsch vorliegt.

Man wußte, daß sich Picasso mit der Fotografie beschäftigte. Aber nichts wirklich Genaues, nicht, wie lang, wie intensiv - und welche Bedeutung sie tatsächlich für seine Malerei hatte. In Picassos Fotoarchiv schlummerte eine bisher nur bruchstückhaft erschlossene Fülle von Material. Es wirft ein neues Licht auf die Arbeitsweise Picassos sowie auf die Rolle konkreter ethnologischer Fotografien bei der Entstehung seiner frühen kubistischen Arbeiten, darunter das Schlüsselwerk "Les Demoiselles d'Avignon". Picassos Fotoarchiv liefert aber noch viel mehr, nämlich außerordentlich wichtige Aufschlüsse über die Wichtigkeit der Fotografie für die Entwicklung eines neuen Sehens und für die Entstehung des Kubismus. Und noch einiges mehr.

Die Fotosammlung enthält rund 15.000 Fotodokumente. Bilder, die er selbst aufgenommen oder gesammelt hatte. Sie ging nach seinem Tod in den Besitz des Pariser Musee Picasso über und harrte des wissenschaftlichen Dornröschenkusses. Der kam von Anne Baldassari, die dort seit 1992 als Kuratorin tätig war, den Stellenwert dieser Bildersammlung erkannte und das Fotoarchiv in jahrelanger Arbeit systematisch aufarbeitete. Die Ergebnisse dieser Arbeit können hier nur bruchstückhaft angedeutet werden. Für jeden, der sich für die Kunst unseres Jahrhunderts im allgemeinen oder für Picasso im besonderen interessiert, sollte dieses Buch wohl eines der allernächsten sein, die er sich kauft. Es ist kaum eine Übertreibung: Dieser Text liest sich stellenweise wie die verschollene Choreographie des Tangos, den in unserem Jahrhundert die Kunst mit der sichtbaren Wirklichkeit tanzte und bei dem, wie sich nun zeigt, die Fotografie einen der Tanzlehrer spielte.

Sofort erkennbar, vordergründige Sachverhalte: Die vielfältigen Beziehungen zwischen den "Demoiselles d'Avignon" und den 1906 von Edmond Fortier abgelichteten westafrikanischen Frauentypen, die formalen Parallelen zwischen einem "Akt mit erhobenen Armen, von vorne gesehen" von 1907 mit einer Figur der erwähnten ethnographischen Aufnahme, oder die "Büste einer Frau in Rot" von 1906-1907 mit einer anderen. Solche Übereinstimmungen ziehen sich fast durch das ganze Lebenswerk. Die Farbstellungen und einige Formelemente der collagehaft abstrahierten, im Frühjahr 1917 in Rom entstandenen "Italienerin" erkennen wir in den Trachten der Italienerinnen auf zwei um 1900 in Dresden gedruckten Postkarten in Picassos Archiv wieder. Auch bei der Entstehung der abstrakten "Badenden mit Ball" von 1929 spielte ein Strandfoto von Marie-Therese Walter mit Ball eine wichtige Rolle - das sind nur einige Beispiele.

Bis in seine allerletzten Lebensjahre verfremdete Picasso Fotos, etwa indem er einen leicht lasziv gezeichneten Jaime Sabarte ein fotografiertes Pin-up-Girl küssen ließ, oder indem er eine fotografierte Schöne im langen Ballkleid in eine "Satyr-Frau" verwandelte, indem er ihr mit der Rohrfeder kesse schwarze Beine aus dem Kleid springen ließ, oder indem er ein Profilfoto von sich selbst um ein Monokel, wallendes Haupthaar und einen struppigen schwarzen Bart bereicherte.

Picasso begann um 1900 nicht nur zu fotografieren, sondern seine Platten auch selbst zu entwickeln und Kontaktabzüge anzufertigen. Er beherrschte die Technik perfekt und war ein exzellenter Fotograf. Es gibt eine Fülle fotografischer Porträts und Selbstbildnisse, aus dem Jahr 1904 ein Porträt mit Selbstporträt (der fotografierende Picasso ist in einem Spiegel zu sehen), ein Bild von Georges Braque und Fernande Olivier in einer Bar, das völlig den damals gängigen Fotoarrangements widerspricht. Picasso kniete wahrscheinlich und stützte den Fotoapparat auf einen Sessel. Die "Bauchperspektive", die in den vierziger und fünfziger Jahren von Heerscharen von Fotografen kultivierte Untersicht, interessierte ihn besonders, er nahm sie vorweg.

Mit Picassos Freundschaft mit Dora Maar gewann die Fotografie besondere Bedeutung für seine Arbeit. In die Zeit mit Dora Maar fällt auch die Entstehung eines der gewaltigsten Bilder des Jahrhunderts. Daß bei der Arbeit an "Guernica" die Fotografie eine besonders wichtige Rolle spielte, ist allgemein bekannt: Pressefotos vom spanischen Bürgerkrieg lieferten entscheidende Anregungen, die überarbeiteten Stadien des Bildes wurden fotografisch dokumentiert, Fotografien halfen ihm aber auch bei der Abstimmung der Grauwerte des Bildes.

Picassos Interesse für die Fotografie, ihr vielfältiger Einsatz zur Dokumentation der Stadien bei der Entstehung vieler Bilder, die Verwendung von Fotografien als Arbeitshilfe und nicht zuletzt sein Experimentieren mit dem lichtempfindlichen Material - das alles war freilich mehr oder weniger gut bekannt. Die neuen Gesichtspunkte, die Anne Baldassari einbringt, betreffen die Wichtigkeit der Fotografie bei Picassos Vorstoß zu neuen Strategien des Sehens. Sie geht von der offenkundigen Tatsache aus, daß gerade für die entscheidende Phase, die mit den "Demoiselles d'Avignon" kulminiert, der Einfluß ethnographischer Fotografien evident ist. Die Ähnlichkeiten, findet sie, liegen "weniger in der Pose als in der Zeichnung der Gelenke, der zylinderförmigen Körperhaftigkeit des Rumpfes und der Gliedmaßen und vor allem in der Lichtmodellierung, die sich darauf reduziert, den Umriß zu umspielen." Nach ihrer Theorie "haben alle Figuren der Demoiselles im Verlaufe der vielen Studien, die zu ihrer Vorbereitung gedient haben, formale Elemente angelagert, die aus einer oder mehreren der Postkarten Fortiers entnommen wurden."

Die Fotografie, so die Kuratorin des Picasso-Museums, spielte für ihn die entscheidende Rolle nicht als dokumentarisches oder technisches Werkzeug, sondern als "Methode, sich der Wirklichkeit dort anzunähern, wo sie bereits zum Bild geworden ist, die visuellen Antriebe des Unbewußten auf die Probe zu stellen, sich des Lichtes gleichermaßen zum ,Erkennen' wie zum ,Sehen' zu bedienen ... Als Kunst des Ausschnitts und der Reduktion, als Kunst, in der die Bilder erscheinen und verschwinden, könnte die Photographie eine der inneren Grenzlinien gebildet haben, entlang derer Picasso seine Suche diesseits und jenseits der Erscheinungswelt betrieb."

Sehr viel genauer konnte vielleicht auch Picasso selbst den Tango der reinen Form mit der Wirklichkeit nicht erklären, sonst hätte er es vielleicht doch getan, statt zu schreiben: "Es wird sicher eines Tages eine Wissenschaft geben ... die sich mit dem schöpferischen Menschen befaßt ... Ich denke oft an diese Wissenschaft, und es ist mir wichtig, der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation zu hinterlassen."

Picasso und die Photographie - Der schwarze Spiegel Von Anne Baldassari, Verlag Schirmer/Mosel, München 1997, 264 Seiten, 272 Abb. (Farbe und SW), Ln., öS 934,

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