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Pionier des Neuen: Neutra

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Das Gepäck, das der junge, schmächtige österreichische Architekt, der im Jahre 1923 amerikanischen Boden betrat, mitbrachte, bestand hauptsächlich aus Enthusiasmus und Ideen. Richard J. Neutra, 1892 in Wien geboren, hatte seine Heimat schon fünf Jahre vorher — nach dem Zusammenbruch der Monarchie — verlassen und war nun aufgebrochen, um sein Glück in einer anderen, neuen Welt zu versuchen. Entscheidend war für ihn frühzeitig der erste Eindruck neuer Architektur gewesen: die Haltestellen der Wiener Stadtbahn, die Otto Wagner, seit 1894 Professor an der Wiener Akademie, baute. Er bestimmte nicht nur die Berufswahl, sondern auch die Gesinnung, mit der Neutra von Anfang an der Architektur gegenübertrat.

Dem Studium an der technischen Hochschule in Wien gesellte sich bald der zweite, entscheidende Einfluß bei. Es war der des großen Anregers und Theoretikers Adolf Loos, dessen Sauberkeit und menschliche Einstellung zur Architektur in Neutra einen Fortsetzer und Vollender finden sollte. Der Blick Adolf Loos’ war immer über die Grenzen Österreichs gerichtet gewesen. Als einem der ersten war ihm die entscheidende Rolle, die die Industrie, das Maschinenzeitalter, in einer kommenden Bauästhetik spielen sollte, als Vision deutlich geworden, und er erhoffte in den aus England und Amerika kommenden Impulsen das Heil gegen die provinzielle Dekadenz seiner Heimat. Bei seinem Amerikaaufenthalt, der zwei Jahre dauerte, hatte Loos Louis Sullivan kennen und bewundern gelernt. Er mag Neutra von ihm und der erwachenden Frische des neuen Kontinents erzählt haben. Wie dem auch sei, der junge Neutra schloß hoch vor dem ersten Weltkrieg seine Studien ab und diente dann als Artillerieoffizier auf dem Balkan. 1919/20 arbeitete er in der Schweiz, w-ajhftitfr mit deni S rfcn0WcHiteW n ftftitnann irittMerirrifc’ ijl’įarffch seine Frau Dione’ keiin’en. ‘ Von ‘ dott führte ihn sein Weg nach Berlin, zu Erich Mendelsohn, einem der damals wichtigsten Architekten Deutschlands (Einstein-Turm, Haus Schocken), bei dem er Siedlungshäuser baute. Dann wagte er den Sprung über das Wasser.

Die Voraussetzungen

Wie gesagt, sein Gepäck bestand vorwiegend aus Enthusiasmus und Ideen. Den Ideen, die — zum größten Teil noch Papier — in Europa langsam dm Reifen waren und zur Ausführung drängten, dem Enthusiasmus, der ihn befähigte, die anfänglich oft schweren Zeiten in Amerika zu ertragen und einem beträchtlichen Maß an schöpferischem Ingenium, das ihn zu einem der bedeutendsten Architekten, nicht nur seiner neuen Heimat, sondern der Welt werden ließ.

1923 war ein entscheidendes Jahr. Le Corbusier hatte bereits seine ersten Häuser gebaut und war daran, seine neue Raumauffassung zu verwirklichen, die Stijl-Gruppe in Holland hatte Pläne und Modelle verfertigt (sie wurden damals in Paris ausgestellt), die ein für allemal mit der Vorstellung des Hauses und seiner Räume als geschlossener Kuben aufräumten. Van Doesburg und van Eesteren waren ihre Pioniere. Mies van der Rohe hatte zur selben Zeit in Entwürfen eines Ziegelhauses und eines Eisenbetonhauses für die neue Raumdurchdringung eine Form gefunden, die windmühlenflügelartig nach allen Seiten ausstrahlte und damit das Problem auf seine Art gelöst.

Im Grunde hängen die Bestrebungen der Architektur dieser Zeit mit denen des Kubismus in der Malerei um 1910 zusammen: Die Durch dringungselemente des architektonischen Raumes schaffen ein spatiales Kontinuum, das heißt, daß an die Stelle eines abstrakten Schemas ein organisches, von der Funktion bestimmtes Ineinanderwirken der Raumelemente tritt. Damit endet endgültig die alte, zentralperspektivisch verankerte Architektur, schon in der Außenfassade nach einem Fluchtpunkt ausgerichtet, zugunsten einer dynamisch gelockerten, aufgegliederten, man könnte fast sagen biologischen Aggregation von räumlichen Lebenselementen, deren anfangs nüchtern auf die Funktion bezogenes Maß ihr eigentlicher Ausdruck ist. Das Gebäude schließt sich nun nicht mehr gegen die Umwelt ab, es nimmt sie herein, öffnet sich gegen das Außen. Innen- und Außenraum beginnen sich zu durchdringen und in ein bewegtes Kontinuum überzugehen. Es war Neutra vergönnt, diese Elemente in seinen Bauten zu einem Höhepunkt zu entwickeln.

Die neue Baugesinnung, deren Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert liegen, war durch die technologische Revolution, durch die Ingenieurkunst heraufgeführt worden. Der Eisenskelettbau, die Erfindung des Eisenbetons, die Möglichkeit, große Flächen zu verglasen, waren da, bevor die Architekten ihre Möglichkeiten erkannten. Wohl hatten die akademische Schwerfälligkeit und der Historizismus die neuen Materialien benutzt, sie aber mit den verlogenen Fassaden einer falschen Repräsentationsvorstellung beklebt — wie es auch heute noch geschieht. Gegen diese Gesinnung richteten sich Adolf Loos in seinem Essay „Ornament und Verbrechen“, Sullivan mit seinem Schlachtruf „Die Form folgt der Funktion“ und der Slogan Corbusiers von der „Wohnmaschine“.

kaum je Detailpläne zeichnete, sondern Maße und Spezifikationen im Kopf hatte und Höhen und Weiten mit ausgestrecktem Arm angab und damit eine Einstellung demonstrierte, die den Wohnbereich des Menschen als eine Projektion seiner inneren und äußeren Gestalt sah. Der Mensch sollte nicht ihm fremde, nach abstrakten Gegebenheiten gebaute

Räume erfüllen, sondern die Räume wurden nach dem Maß des Menschen geformt. Das Absolute war, allen Revolutionen zum Trotz, noch immer in der Natur des Menschen zu suchen, in seiner physiologischen Bedingtheit, nicht in einer idealen Geometrie, die ihn außer acht ließ. Neutra hat diese Auffassung nicht nur in zahlreichen Publikationen klar formuliert, sondern in die Tat umgesetzt:

Der Bau eines Neutra-Hauses wird von einem Vorgang eingeleitet, der einer demoskopischen Untersuchung gleicht. Die Familie, die sich „ihr“ Haus wünscht, wird tagelang, wochenlang nach ihren Lebensgewohnheiten befragt, ihre Bedürfnisse, individuellen Wünsche werden geprüft, aufeinander abgestimmt: das Haus wird nach einem physiologischen, biologischen und seelischen Maß gefertigt. Zugleich ist es das Bestreben des Architekten — soweit es möglich ist —, den Menschen wieder in engsten Kontakt zur Natur zu bringen, ihm das Bewußtsein eines harmonischen Zusammenhanges zu geben, der ihn selbst überschreitet. Das Haus ist nicht nur zufällige Stätte des Lebens selbst, es ist bergende Hülle, Kleid, fördernde Hilfe.

Dazu kommt, daß sich Neutra aller technologischen Hilfsmittel bedient, dieses Leben zu erleichtern. Er ist ein begeisterter Verfechter der Strahlungsheizung, benützt gerne vorfabrizierte Elemente — aber auch nur dort, wo sie notwendig sind — und plant mit einer Genauigkeit, die ihn den Kostenvoranschlag oft nur um weniger als fünf (!) Dollar überschreiten läßt — was bei unseren landesüblichen Gepflogenheiten geradezu märchenhaft erscheint.

Keineswegs ist Neutra, wie es oft heißt, der Architekt für Millionäre. Die Zahl der Häuser, die er mit geringsten Mitteln erbaute, ist erstaunlich und eindrucksvoll. Seine Schulen wurden zum internationalen Vorbild, seine Planungen erweisen schon jetzt ihre vorausschauende Richtigkeit.

Sein ästhetischer Weg hat sich zu immer größerer Klarheit entwickelt. Was ihm mitgegeben war, findet immer wieder einen neuen und noch geläuterteren Ausdruck: Originalität der Lösung und letztes klassisches, auf dem Menschen beruhendes Maß.

Besonders erstaunlich ist, wie sich seine Häuser zur Landschaft verhalten. Während sie sich ganz in sie einfügen, verleugnen sie nie ihre schöpferische Herkunft, sie korrespondieren mit der Natur in einer Art und Weise, die jedesmal und bei jedem Bau neu zu einem besonderen Erlebnis witd. Hi ist nicht der brutale Aufätand des Menscheft gegen die Schöpfüng zu spüren, die Vulgarität seiner Selbstbehauptung, sondern die liebende Umfassung aller Formen des Seins. Das liegt daran, daß Neutra sich auch als Denker mit seiner Kunst beschäftigt und in der Architektur mehr als eine zweckgebundene Äußerung des Menschen sieht. Er hat in seinem Buch „Survival through Design“ darüber erschöpfend Auskunft gegeben.

Der Theoretiker und Denker

Neutra sieht die technologische Entwicklung als eine einzigartige Herausforderung des Menschen. Mit ihrem Janusgesicht ist sie Bedrohung und Verheißung zugleich. Die lebenserhaltende Einheit des Menschen mit der Natur und der Welt wird durch sie bedroht und gestört. Das Entscheidende scheint ihm, die Technik dem Bereich des Menschen anzupassen und nicht umgekehrt. Der Mensch hat nicht zu resignieren, sondern, seiner Würde sich besinnend, hat er sie als etwas Brauchbares zu erkennen und zu verwenden. Damit tritt — wieder nach Neutra — eine neue Art von Menschen in das Blickfeld. Sie sind schöpferischer Natur, „Gestaltplaner“, die auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse der Biologie und der Physiologie den Lebensraum des Menschen so formen, daß die latenten Drohungen des Alltags verschwinden und wieder jene Harmonie und Ordnung entsteht, die in früheren Zeiten die kulturellen Epochen auszeichnete. Dabei hat der Architekt in erster Linie dafür zu sorgen, daß der tägliche Umraum des Menschen im Wohnhaus, in der Fabrik und im Gemeinwesen so gestaltet wird, daß er den Menschen nicht bedrohlich, sondern bergend umgibt, daß die vielfältigen Funktionen des Menschen bei Wahrung seiner Individualität innerhalb der verschiedensten Gemeinschaftsbereiche erfüllt und aufgenommen werden.

Neutra ist kein platter Fort- schtyftsgläubiger, sondern beseelt von jenem . enthusiastischen .. Ethos, immer wieder im Mensch-Sein’ die Freiheit, den Freiheitsraum der Entscheidung zum Transzendenten offen läßt. Seine Kapelle in La Jolla beweist, wie tief er den religiösen Gedanken begriffen hat. Noch immer ein Feuerkopf, ist der bald Siebzigjährige nicht aus der vordersten Front zeitgenössischer Architektur wegzudenken. Sehr spät wurde er durch eine hübsche, aber zu kleine Ausstellung im Österreichischen Bauzentrum im Liechtensteinpalais geehrt. Sie gibt eine Ahnung davon, v/as wir an ihm verloren haben und was die Welt gewonnen hat.

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