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Polen im Jahre 3

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l für die Situation der Kirche in Volkspolen.“

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An die „Zbawiciela“ — die Kirche und das Gleichnis — mußte der Gast seit jenem Gespräch oft denken. Die beiden spitzen Türme über der öden Häuserfront erschienen stets vor seinem geistigen Auge, wenn er in vielen Begegnungen und Gesprächen bemüht war, ein möglichst getreues Bild von der gegenwärtigen Situation des polnischen Katholizismus zu gewinnen, wenn von den Hoffnungen und Befürchtungen die Rede war, mit denen Polens Katholiken in das „Jahr 3“ der von ihnen einst freudig begrüßten neuen Entwicklung ihres Vaterlandes gehen.

Die Türme der Zbawiciela: ihre Konturen erschienen unsichtbar vor dem Blick, als der Wagen sich dem polnischen Nationalheiligtum auf der Jasna Göra in Tschenstochau näherte.

Die Türme der Zbawiciela: sie bildeten eine überdimensionale Kulisse, als der fremde Gast durch die engen Straßen der alten Königsstadt Krakau ging.

Die Türme der Zbawiciela: sie waren mit dabei in den eindrucksvollen Begegnungen mit markanten Vertretern des polnischen Episkopates.

Die Türme der Zbawiciela: vor ihrem unsichtbaren allgegenwärtigen Hintergrund spielt sich nicht zuletzt das Wirken jener polnischen katholischen Politiker und Publizisten ab, die mit Ermutigung des Episkppafes 19.56 zu einer schmalen Gratwanderung aufbrachen und deren Aktivität unser besonderes Interesse galt.

„Wir haben im vergangenen Jahr doppelt so viele heilige Kommunionen ausgeteilt als in Lourdes.“ Nicht ohne Stolz erzählt dies der liebenswürdige Pater im weißen Habit der Paulinermönche, als er uns durch die Gänge und Säle des polnischen Nationalheiligtums in Tschenstochau geleitet. Wäre nicht diese Mitteilung gewesen, die dicht gedrängten Menschen vor dem Gitter der Gnadenkapelle („Heute ist nur ein gewöhnlicher Sonntag. Zu den großen Gnadentagen im August waren es Zehntausende.“) hätten es allein schon gezeigt: die großen Wallfahrten sind heute noch immer, wie in den Tagen des Barocks, d i e Manifestation des polnischen Katholizismus. Ob es die großen Gnadentage im August sind, in dem sich hier in Tschenstochau das katholische Volk mit dem Episkopat in der großen Huldigung an die „Königin von Polen“, zu der einst in äußerster Bedrängnis König Jan Kazimierz die Madonna ausrief, vereint, ob es der österliche Gang der Landbevölkerung nach Kalwaria Zebrzydowska im westlichen Galizien ist oder aber die gewaltigen Züge der oberschlesischen Bergleute in 'das vom Rauch ihrer Zechen und Werke um-düsterte Piekary: überall entfaltet die „Volksfrömmigkeit“, die bis zur Jahrhundertwende in Mitteleuropa ein ähnliches Gesicht zeigte, ihr charakteristisches Gepränge. Und wenn Tränen in die Augen der Menschen treten, sobald der schwere Vorhang vor dem Muttergottesbild auf der Jäfsna Göra herabgleitet, dann ziemt auch dem Gast aus dem Westen, jede geistesgeschichtliche Betrachtung zurückzustellen und mit einem leidgeprüften Volk still das Knie zu beugen. Man vergesse auch nicht: die großen Wallfahrten sind die einzige'Form, in der sich heute in Polen katholisches Leben entfalten kann. Neben kleinen Zugeständnissen an die Intellektuellen, von denen noch die Rede sein wird, ist eine katholische organisatorische Tätigkeit — sei es im Rahmen von Vereinen oder in einer umfassenden katholischen Aktion — nicht möglich. Freizügigkeit ist dagegen der Seelsorge eingeräumt, wenn es auch — mit Ausnahme des garantierten Religionsunterrichtets in den Schulen — oft auf die Initiative des einzelnen Priesters ankommt, die unsichtbar vor der Kirchen- und Sakristeitür gezogene Grenze zu überschreiten.

Und diese Initiativen der einzelnen sind es auch, die für das Gesamtbild des polnischen Katholizismus ebenso bezeichnend und entscheidend sind wie die großen Manifestationen vor den Heiligtümern.

Auch an solchen unauffälligen Initiativen hat der polnische Katholizismus eine gewisse Tradition: daß man von ihnen in der katholischen Welt bisher kaum Notiz genommen hat, kränkt in Polen wenige. Ihre Meinung: „Es ist vielleicht besser so.“ Ein Beispiel: Die Frage der französischen Arbeiterpriester beschäftigte und beschäftigt die Katholiken des Westens. Wer aber von ihnen weiß, daß es ein Jahrzehnt zuvor schon ein polnisches Arbeiterpriesterexperiment gegeben hat? Der Priester, mit dem uns schon eine halbe Stunde ein Gespräch verbindet, kommt beiläufig darauf. Er sei einer von jenen ungefähr 20 Priestern, die der polnische Episkopat seinerzeit als Arbeiter nach Hitler-Deutschland geschickt hat, damit sie die seelsorgerische Betreuung ihrer verschleppten Landsleute übernehmen . . . Neben so großen Initiativen in welthistorischen Stunden gibt es auch im Alltag genügend Bewährungsproben. Da ist ein Domherr, der im Bereich seiner Pfarre eine mustergültige persönliche Betreuung der Alten und Kranken organisiert. Dort ist ein anderer Pfarrer, der einen jahrelangen Kampf gegen das Bettlerunwesen an seiner Kirchentür gewinnt. Heute sammeln freiwillige Helferinnen und verteilen den Erlös gerecht Woche für Woche an die Pfarrarmen. Geistliche Schwestern richten eine theologische Fachbibliothek ein und ergänzen sie aus ausländischen Spenden. Und nahe von Warschau, in Hlaski, erstand eine Heilanstalt für — wie es heißt — „körperlich und geistig“ Blinde.

„Wir müssen noch viel mehr die Gläubigkeit unseres Volkes rationalisieren.“ Ein Bischof, der in seinem Leben schon viel Leid und Verfolgung erlitten hat, spricht diece Worte. Aber gar bald erzählt er dem Gast mit viel innerer Anteilnahme die Geschichte einer Studentin, die nur eine mystische Gläubigkeit im Krieg aus den Fängen der Gestapo schließlich errettet hat.

Gott gebe dem polnischen Volk, das erstere zu wagen, ohne die letztere Quelle seiner Kraft zu verschütten.

Wagnis und Glaube: beides gehörte ohne Zweifel dazu, 1956, nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit, die katholische Sache wieder in der Oeffentlichkeit in Wort und Schrift zu vertreten. An der Grundskizze der politischen Landschaft hat sich nichts geändert, wohl sind aber da und dort kleine Verlagerungen in der Schwerpunktbildung eingetreten. Nach wie vor steht die durch ihre Regimetreue vor dem Oktober 1956 schwerst kompromittierte „P a x“ - G r u p p e für den Episkopat und für die Masse der Katholiken außer Diskussion. Hoffnungen, daß ihr Chef, Boleslaw Piasecki — eine Kondottierenatur —, sich eines Tages eines Besseren besinnen wird, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: erst vor kurzem veröffentlichte er eine von seinen Gegnern spöttisch „Hirtenbrief“ genannte wortreiche Enunziation, in der er der Vermengung von Katholizismus und Marxismus das Wort redet. Piasecki kommt vom polnischen Faschismus der Vorkriegszeit. Er wurde „umgedreht“. Auch heute ist er Nationalist — er ist der letzte Abkomme jener Spielart des polnischen Nationalismus, der im russischen Bündnis nicht nur eine „Staatsräson“, sondern eine Art „Ostlösung“ für den bekannten polnischen Messianismus erblickt. Das alles ist Theorie, harte Tatsachen aber sind es, daß Piaseckis Gruppe noch immer eine Reihe von katholischen Zeitungen und Zeitschriften — darunter vor allem die Warschauer Tageszeitung „SLOWO POWSZECHNE“ („Allgemeines Wort“) benutzt und als Verlag kommerziell eine feste Bastion bildet, zu der nicht wenige Schriftsteller pilgern.

Ruhig, sehr ruhig ist es zur Zeit um den Abgeordneten Jan Frankowski und seine im „Christlichsozialen Verband“ und um die

Wochenzeitung „ZA I PRZECIW“ („Pro und kontra“) gescharte kleine Gruppe. Frankowski, ein kommerziell nicht untüchtiger Mann — seine wirtschaftliche Basis ist der Devotionalienhandel - hält sich sichtlich in Reserve. Für welche Stunde?

Im Mittelpunkt des katholischen Interesses steht nach wie vor die Gruppe „ZNAK“ („Zeichen“), ihre Abgeordneten und Publikationen. Im Parlament gehören ihr außer dem Schriftsteller Jerzy Z a w i e y s k i, der auch als Katholik im Staatsrat sitzt, der durch etliche freimütige Reden hervorgetretene Professor der katholischen Universität Lublin, Zbigniew M a k a r c z y k, an, Stanislaw S t o m m a aus Krakau — er übt ohne Titel die Rolle einer Art Generalsekretär der Gruppe aus und hat sein Prestige durch die Teilnahme an der Rom-Reise Kardina] Wyszynskis stark vermehrt -kommt hinzu, der Satiriker Stefan K i s z e-I e w s k i vertritt Wroclaw (Breslau), der Rechtsanwalt Mirow Kolakowski, Frau Wanda P i e n i q z n a, Kazimierz S k o w r o n-s k i und Konstantin L u b i e n s k i gesellen sich im Sejm hinzu. Nicht zu vergessen: der „Auto-chthone“ Paul Kwoczek aus Oppeln in Schlesien.

Publizistisch wird die Gruppe vor allem durch die in Krakau wiedererscheinende von Jerzy Turswicz geleitete „kulturkatholische“ (das Wort „kulturpolitisch“ wird vermieden) Wochenschrift „TYGODNIK POWSZECHNY“ („Allgemeine Wochenzeitung“), vertreten. Sie erreicht wöchentlich 50.000 Leser. Eine größere Auflage erlaubt die Papierzuteilung nicht. Die gesellschaftstheoretische Monatsschrift „ZNAK“ (sie gab der ganzen Gruppe den Namen) erscheint ebenfalls in Krakau und wird von Jacek Wozniakowski redigiert. In Warschau gibt Tadeusz Mazowiecki und ein Kreis jüngerer Akademiker die Monatsschrift „WIEjZ“ („Bindungen“) heraus, die ihr Vorbild, die französische Revue „Espr!“ offen bekennt und den „Prrsonalismus“ Mouniers mit der polnischen Wirklichkeit konfrontieren möchte. -

Im Zusammenhang mit der Gruppe „Znak“ müssen die in Warschau und in Krakau geöffneten „Klubs der katholischen Intelligenz“ erwähnt werden, die zwar keine Organisationen sind, aber ein Diskussionsforum darstellen. Die ursprünglich geplante Errichtung eines alle lokalen Klubs umfassenden „Allpolnischen Klubs“ wurde von der Regierung nicht zugestanden, dagegen hat man — endlich! — einen Buchverlag konzediert bekommen.

Die Aufgabe der Männer und Frauen der Gruppe „Znak“ ist eine ebenso verantwortungsvolle wie undankbare. Sie müssen — in eigener Verantwortung — eine Mittlerrolle zwischen der Masse des katholischen Volkes Polens und der Regierung erfüllen. Nach oben und nach unten... Sie dürfen nicht nach der Zukunft fragen. Sie müssen — in einer besonderen Situation — die Forderung des Evangeliums erfüllen: „Wirken solange es Tag ist...“

Und die Zwischenfälle des vergangenen Sommers, die in dem Besuch der Miliz auf der Jasna Göra ihren Höhepunkt fanden? Waren es einzelne Uebergriffe oder erste Anzeichen einer neuerlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat? Immer wieder und immer neuen Gesprächspartnern stellte ich diese Fragen. Die Antworten waren niemals leichtfertig oder von einem -wirklichkeitsfremden Optimismus. Allein sie hatten auch keineswegs den Tenor gewisser westlicher Alarmfanfaren. Die ideologische Offensive, die die divergierenden Elemente der polnischen KP wieder zusammenschweißen soll, habe sich in gewissen Punkten mit den Bestrebungen der Kirche zur Vertiefung des Glaubens gekreuzt. Hier hätte es Funken gegeben. Beide Teile — Regierung und Kirche — haben die Grenzen ihrer Möglichkeiten erkannt. Und das sei vielleicht gut so. Zurück zum Oktober — zum Oktoberabkommen 1956 — sei die Devise nach den „Sommergewittern“ dieses Jahres. Massive Einflüsse, die nicht im Innern Polens ihren Ursprung hätten, könnten allein eine andere ungünstigere Entwicklung, die hierzulande niemand — die Betonung liegt auf niemand — wünsche, erzwingen. „Trotz allem: wir hoffen.“

Der Rest ist Schweigen.

Als ich das letzte Mal durch die Marszal-kowska ging, dämmerte es. Die Häuser zeigten keine festumrissenen, klar zu erkennenden 'Umrisse. Nur zwei Strünke wuchteten gegen den Himmel: die Türme der Zbawiciela.

In der nächsten Nummer: ASCHE UND DIAMANT

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