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Provokationen nur am Rande

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Den Künsten hat man sich in Venedig September über verschrieben, sich für sein fashionables internationales Publikum, die gehätschelten „settembrini” aus Harry’s Bar, Cipriani, Lido- Excelsior, Attraktionen einfallen lassen, bei denen wenigstens für kurz mit dabei zu sein nach wie vor en vogue ist. Und man hatte vor allem auch Europas Jugend gebeten, der heuer hier erstmals im Atheneum ein Diskussionsund Debattierforum für Fragen Neuer Musik und Neuen Theaters geboten wurde. Im ganzen: ein mit klangvollen Namen (Boulez, Bus- sotti, Maderna, Stockhausen, Hagel…) und Dutzenden Ur- und Erstaufführungen üppig bestücktes Festival Neuer Musik, ein mit an die 30 Ensembles nicht minder kostspielig aufgezogenes Theaterfest und etwa zehn große und kleinere Ausstellungen demonstrierten Venedigs Anspruch, wenigstens einen Monat lang im Sommer mehr zu sein als Touristenattraktion: alter Sendung gemäß die Kunstmetropole Italiens, ja des mittleren und südlichen Europa, eine lebensvolle Stadt, deren Atmosphäre neuerdings Publikum aller Gesellschaftsschichten und Kreise zu fruchtbarem, demokratischem Gespräch züsammenführt. Eine realistisch-zukunftsträchtige Idee, deren Tragfähigkeit schon in nächster Zukunft, längstens bei der Planung des Festivals 1970, nachgewiesen werden soll.

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Den Künsten hat man sich in Venedig September über verschrieben, sich für sein fashionables internationales Publikum, die gehätschelten „settembrini” aus Harry’s Bar, Cipriani, Lido- Excelsior, Attraktionen einfallen lassen, bei denen wenigstens für kurz mit dabei zu sein nach wie vor en vogue ist. Und man hatte vor allem auch Europas Jugend gebeten, der heuer hier erstmals im Atheneum ein Diskussionsund Debattierforum für Fragen Neuer Musik und Neuen Theaters geboten wurde. Im ganzen: ein mit klangvollen Namen (Boulez, Bus- sotti, Maderna, Stockhausen, Hagel…) und Dutzenden Ur- und Erstaufführungen üppig bestücktes Festival Neuer Musik, ein mit an die 30 Ensembles nicht minder kostspielig aufgezogenes Theaterfest und etwa zehn große und kleinere Ausstellungen demonstrierten Venedigs Anspruch, wenigstens einen Monat lang im Sommer mehr zu sein als Touristenattraktion: alter Sendung gemäß die Kunstmetropole Italiens, ja des mittleren und südlichen Europa, eine lebensvolle Stadt, deren Atmosphäre neuerdings Publikum aller Gesellschaftsschichten und Kreise zu fruchtbarem, demokratischem Gespräch züsammenführt. Eine realistisch-zukunftsträchtige Idee, deren Tragfähigkeit schon in nächster Zukunft, längstens bei der Planung des Festivals 1970, nachgewiesen werden soll.

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Nun, Demokratisierung und Mitspracherecht des Publikums sind nach den Malerrevolten des Vorjahres zwar vom Ca’Giustinian, dem Sitz der Biennale, als Parolen ausgegeben worden; daß jetzt freilich ein bißchen Angst vor der eigenen Courage mitspielt, demonstrierten diskret postierte Polizisten. Allerdings das Publikum ist diesmal in einer Hinsicht nicht recht mit von der Partie gewesen: Demonstrative Provagesten sind ein bißchen aus der Mode gekommen, die Künstler geben sich kaum noch aggressiv. Selbst Protestpfiffe und Cliquengezischei gingen im allgemeinen Jubel unter, in der Hochstimmung des „Wie gut sind wir doch!”.

Respektable musikalische „Ausbeute und erste Uraufführungsrekorde lieferten gleich die ersten drei Tage: fünf Konzerte mit insgesamt vierzehn instrumentalen Ur- und Erstaufführungen, einem halben Dutzend elektronischer Studien, in ihrer aufwendigen Gestik unverkennbar Produkte aus dem Labor des Studio di Fonotogia der RAI (Radiofelevisione Italia na) Mailand; ferner mit einer Hommage für Schönberg (op. 8 und 34 und einem total verinszenierten „Pierrot lunaire”) sowie für Alexander Skrjabin („Prometheus”- Symphonie) und einer Menge wertvoller Anregungen aus Vonmittagsgesprächen, bei denen freilich vorerst die Komponistenprominenz fehlte. Hörenswert waren da vor allem die „Pierrot Players London”, ein fabelhaft trainiertes Kammerensemble (es wird demnächst in Wien zu hören sein), das sich unter Leitung der Komponisten Peter Maxwell Davies und Harrison Birtwistle vorstellte: Man wird sich beide Namen in Wien genau vermerken müssen. Des einen „Antechrist” — ein straff organisiertes, reich ornamentiertes Gruppengefüge aus Motetten- und Oantus-firmus-Frag- menten — wie des anderen „Iinoi II” sind knapp formulierte Meisterstücke. Beide beziehen sich gern auf mittelalterliche Quellen. — Pierre Boulez’ Beitrag zu „Girlanden für Dr. K.”, eine Hommage von elf Komponisten für Dr. Alfred Kalmus, den Direktor der Universal Edition Wien—London, wurde unausgeführt: ein subtili flimmerndes Stück aus reizvollen Strukturen, Arabesken, die sich zum Kranz einer Minilaudatio winden. (Weitere Beiträge lieferten übrigens Stockhausen, Berio, Rands, Birtwistle, Haubenstock- Ramati und andere.)

Unter den sechs Uraufführungen des Konzerts der Solisti Veneti fielen vor allem die „Varizioni 3” des 1927 geborenen Domenico Guaccero auf: ein virtuoses Stück (besonders für das Fagott) mdt viel Improvisation, mit Verstärker- und Rückkopplungseffekten, deformierter menschlicher Stimme, ein klangliches Miniaturtheater von hinreißendem Brio. Obwohl Schocktherapien für Feinde Neuer Musik, skandalöser Avant- gardezirkus und mondäne Monstershows — Atouts früherer Musikfeste in Venedig — diesmal rar waren, man musikalische „Seriosität” als Pflicht ansah, gab’s dennoch fallweise Attraktionen für’s Festspielpublikum wie die Aufführung von John Cages Klavierkonzert als Pausenmusik in allen Foyersälen des Teatro La Fenice. Aus Lautsprechern keuchen, quietschen, lallen und lamentieren Damenstimmen, in den Portikusarkaden des Theaters, gleich neben Venedigs Spitzenrestaurants, malträtiert John Tilbury sein Pianoforte nach 81 möglichen „Modi”, bald can delicatezza, bald mit kühlem Furor britanndcus. Hinter Ballustra- den, auf Galerien, in allen Ecken feilen, schaben, posaunen die Musici des „Fenice”-Orchesters, unabhängig voneinander, lediglich durch Sekunden- und Aktionsangaben der Partitur im vehementen Spielwillen gebändigt. Ein aufregend kurzweiliger Pausenzauber mit Antd-Music, der von den Gästen, Bussotti, Stockhausen und Hofstaat allen voran, mit viel Wein begossen wurde.

Höhepunkt des Festivals waren unbedingt die beiden übende Stockhausens und Mauricio Kagels im „Fenice”: „Nazrsta!”-Rufe schallten zwar im Konzert des ersteren durchs Teatro, Cliquen trampelten zum erstenmal wieder nach Lust und Laime, andere pfiffen und lachten. Wie in guten alten Tagen. („Das Publikum probt seinen Aufstand”, flüsterte ein französischer Musikkritiker nebenan.) Just bei diesem Konzert des Musikfestes, das all denen, die im Vorjahr gegen Cliquenwirtschaft, Vermarktung der Kunst, faschistische Tendenzen und ähnliche Phantomschmerzen Neuer Festivals fast schon routinemäßig Aggressoren gespielt hatten, Stockhausens Uraufführung „Intensität” und die Erstaufführung „Setz die Segel zur Sonne” (Uraufführung: Mai 1969 in Paris) bescherte; beides Piecen aus den „Sieben Tagen”, die anläßlich des Maiaufstandes 1968 für Paris entstanden, den Arbeiterrevolten ein heimliches Denkmal setzten. Stockhausen, Herr und Regler und Filter, und seine beiden fulminant spielenden Ensembles, das für Neue Musik aus Köln und die Free Music Group Paris, hat das nicht sonderlich gestört: Wie wenige haben diese jungen Leute Witz, Erfindungsgabe. Störaktionen ins Lächerliche zu verzerren; notfalls in freier Improvisation Kichern und Zischeln des Publikums elektronisch an die Wand zu spielen, haben säe allesamt im kleinen Finger. Und in Stockhausens Werken, zwei provokanten Stücken, die mit der kühl-eleganten Ästhetik eines Boulez oder Maderna gründlich aufräumen, schwirrt und dröhnt es stellenweise nur so von Hammerwerkkatarakten, kreischenden Wol- kenfetzen. Das subtil webende Pianissimo wirkt darauf um so stärker, oft nur einzelne Töne, in gleichbleibender Intensität vorgetragen, aber voll schillernder Vielfalt: „Spiele einen Ton so lang, bis du seine einzelnen Schwingungen hörst… Halt ihn und höre auf die Töne der anderen …”, ist eine von des Komponisten Anweisungen in der UE-Sprach- Partitur. Ziel: ein „ruhig leuchtendes Feuer”, das sich am Ende ausbreitet, sozusagen literarisches Waldweben und Feuerzauber in einem neuen Tristan-Kosmos, nur miit einer Geste vorgetragen, die ihre Kraft aus der Anti-Musik bezieht. Die Bande zur bis dato noch immer im Musikalischen verhafteten Kompositionsweise scheinen da allmählich zu reißen. Das hat wohl auch Venedigs Publikum am meisten empört. Ähnlich radikal hat auch Mauricio Kagel mit seiner „Himmelsmechanik” und seinem „Pas de cinq” dem Musiktheater konventioneller Prägung eine Absage erteilt. In „Himmelsmechanik” wird Musik nur noch als kosmisches Spiel von Gestirnen unter dem gleichmäßig flutenden Sonnenlicht dargestellt, im Rahmen eines Marionettentheaters, in naiv- phantastischer Weise. Der Pas de Cinq übersetzt musikalische Bewegung optisch, in einem raffiniert ausgeklügelten Kanon von Bewegungen, einem Auf- und Niedersteigen über treppenredche Podien. Es ist ein Musterbeispiel eines Stüdes, das eigentlich längst aus dem konventionellen Theaterraum herausgenommen und in ein Rundtheater hineingestellt gehörte.

Im übrigen hörte man eine Menge neuer Werke. Manches solide gearbeitete Stüde von Maderna (Violinkonzert), von Berio, Terzakis, Renosto, Globokar etwa, die besten in einem Kammermusiknachmittag in den Sale Apollinee mit Stars wie Lothar Faber (Oboe) und Vinko Globokar (Posaune), wo ein Experiment sozusagen musikalisch durch- diskutieirt wurde: nämlich wie man typische Figurations- und Ausdrucksmöglichkeiten bestimmter Instrumente, die menschliche Stimme ein- geschlossen, auf anderen Instrumenten und mit technischen Hilfsmitteln imitieren und aus diesem „Medienwechsel” musikalische Spielformen erzeugen kann.

Das 32. Musikfest in Venedig hat erstmals das Gespräch zwischen Veranstaltern, Komponisten, Interpreten und Publikum bewußt forciert. Früchte dieser Tendenz werden sich in den nächsten Jahren zeigen. Freilich „unsere Gäste müssen erst lernen, von ihrem Recht freier sachlicher Meinungsäußerung, von ihrem Recht auf Kritik und Anregung Gebrauch zu machen”, versichert Dot- tore Wladimiro Dorigo, Pressechef der Biennale, der im Programm für das kommende Jahr Experimente, besonders auf dem Sektor Musiktheater, in den Vordergrund rücken möchte: „Man wird auch einen Weg finden müssen, das Publikum, heuer etwa 40 Prozent ausländische Gäste, sechzig Prozent Italiener, zu intensiverer Mitarbeit heranzuziehen. Etwa in Workshops… Im Interesse des Festivals, das nur so der Gefahr der Sterilisierung, dem Kotau vor ein paar Stars entgeht!”

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