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Prüfstein der Naturphilosophie

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Auf dem Gebiet der Teilchenphysik wird ihm zur Zeit die größte Aufmerksamkeit zuteil: dem Higgs-Boson. Das Teilchen mit dem ulkigen Namen ist einer der Prüfsteine für das Standard-Modell, die derzeit gültige Erklärung der Struktur des Mikrokosmos (siehe links). „Das Higgs-Boson ist wie der Eckstein eines Hauses: Wenn man ihn hinauszieht...” - Meinhard Regler, Experimentalphysiker und stellvertretender Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften wagt es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Jedenfalls müßte das Standardmodell stark revidiert werden und würde seine innere Harmonie und Eleganz verlieren, wenn sich besagtes Teilchen als Hirngespinst erweisen sollte.

„Die englische Regierung hat einmal einen Preis ausgesetzt für denjenigen, der plausibel erklären kann, was das Higgs-Boson ”ist”, schmunzelt Begier, als er zur Erklärung ansetzt: Bei ihren Versuchen, die vier Grundkräfte der Natur - Gravitation, Elekromagnetismus, schwache und starke Wechselwirkung — in einer Theorie zu vereinigen, mußten die Teilchenphysiker feststellen, daß eigentlich kein Teilchen Masse besitzen dürfte; in der Tat aber verfügen viele Teilchen sehr wohl über Masse. Der britische Physiker Peter Higgs postulierte daher ein Kräfteteilchen (Bo-son), das allen massiven Teilchen ihre Masse vermittelt. Für Begier ist das Higgs-Boson nur ein fauler Trick, ein „mathematisches Artefakt”. Er ist daher skeptisch, daß das ominöse Teilchen tatsächlich entdeckt wird - trotz der damit verbundenen gravierenden Folgen für die gesamte Physik.

„Für Experimentalphysiker zählt nur das, was sie in ihren Experimenten entdecken”, weiß Helmut Eberl, die rechte Hand des Direktors des Instituts für Hochenergiephysik. Eberl ist theoretischer Physiker und hat daher einen anderen, einen etwas philosophischeren Zugang zur Teilchenphysik und auch zum Higgs-Boson.

Experimentalphysiker schießen in Teilchenbeschleunigern unter Einsatz enormer Mengen von Energie Elementarteilchen solange aufeinander, bis neue Teilchen entstehen. Je höher diese Energie ist, desto exotischere Teilchen entstehen. Diese Teilchen gehören nicht zu der stabilen und vertrauten materiellen Welt um uns herum. Nach kürzester Zeit, nach Millisekundenbruchteilen, zerfallen sie zu stabileren, weniger exotischen Teilchen.

Theoretische Physiker zäumen das Pferd von der anderen Seite auf. Während die Experimentalphysiker etwas scheinbar Neues erzeugen, gehen die Theoretiker einfach zurück in die Vergangenheit: in die Zeit kurz nach dem Urknall. Vor zirka 15 Milliarden Jahren wurde unser Universum in einer riesigen Explosion geboren: dem „Big Bang” oder Urknall. Noch heute dehnt sich das Weltall in-

Bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen blicken die Physiker zurück in die Zeit kurz nach dem Urknall. folge dieser Explosion aus, wie der amerikanische Astronom Edwin Hubble 1929 entdeckte.

Bei seiner Entstehung war das Uni versum eine sprudelnde Suppe aus Quarks, Antiquarks, Gluonen, Lepto nen, Antileptonen, Photonen, W- und Z Teilchen (und vielleicht noch anderen 'Teilchen). In den allerersten Momenten herrschten Temperaturen von mehr als 1032 Grad im damals noch winzig kleinen Universum - im Inneren eines Sterns ist es mit einigen Milliarden (109) Grad vergleichsweise kühl. Die vier Grundkräfte der Natur, glauben die Physiker, waren ganz zu Anfang noch eine einzige Urkraft.

Je weiter sich das Universum ausdehnte, desto kühler wurde es. Nacheinander koppelten sich die vier Kräfte, die man heutzutage kennt, von der Urkraft ab. Zuallererst die Gravitation, dann die starke Wechselwirkung. Eine Milliardstelsekunde nach dem Urknall schließlich trennten sich die schwache und die elektromagnetische Kraft.

Eine Hundertstelsekunde nach dem Urknall stürzten sich die Gluonen auf die Quarks und verkliAnpten unter anderem zu Protonen und Neutronen. Nach weiteren 100 Sekunden war das Universum soweit abgekühlt, daß sich die Protonen und Neutronen zu Atomkernen formieren konnten. Nach einer Million Jahren war dil durchschnittliche Temperatur auf 1.000 Grad abgesunken - kälter als die Sonnenoberfläche und kalt genug, daß sich die negativ geladenen Elektronen durch die elektromagnetische Anziehung von den positiv geladenen Atomkernen eingefangen wurden.

Erst viel später entstanden Sterne und Galaxien. Noch heute herrscht in den leeren Weiten des Alls eine Temperatur von drei Grad über dem absoluten Nullpunkt (minus 273 Grad Celsius). Diese von den amerikanischen Astrophysikern Arno Penzias und Bobert Wilson 1965 entdeckte kosmische Hintergrundstrahlung ist der letzte Überrest jener gewaltigen Hitze, die zur Zeit des Urknalls im Universum herrschte.

In der Teilchenphysik spricht man von drei Generationen von Teilchen: Zwei Generationen fühlten sich nur unter den extremen Bedingungen des frühen Universums pudelwohl. Sie starben aus, als es ihnen zu kalt wurde und können heute nur mühsam unter Zufuhr riesiger Mengen von Energie wieder zum Leben erweckt werden. Die erste Generation (aus der Sicht der Experimentalphysik) - bestehend aus Down- und Up-Quark sowie Elektron und Elektron-Neutrino - erfreut sich noch heute bester Gesundheit und bildet die vertraute Materie um uns herum.

Helmut Eberl zieht einen Vergleich mit den Aggregatszuständen, wie man sie etwa beim Wasser kennt: Über 100 Grad Celsius tritt es als Wasserdampf auf, zwischen Gefrier- und Siedepunkt als Flüssigkeit und unter null Grad als Eis. Wenn flüssiges Wasser in den gasförmigen Zustand übergeht, entzieht es der Umgebung Energie. Wer sich nach sportlicher Betätigung schweißdurchtränkt ausruht, bekommt dies als Verdunstungskälte zu spüren. Umgekehrt wird Energie frei, wenn Gas in den flüssigen Aggregatzustand übergeht.

Ähnliches ist passiert, als sich - aus der Sicht des theoretischen Physikers -die schwache und die elektromagnetische Kraft trennten: Energie wurde frei. Diese Energie tritt in Form von Masse auf (daß Energie und Masse physikalisch ein und dasselbe sind, kommt in Albert Einsteins berühmter Formel E=mc2 zum Ausdruck). Der 'Träger der Masse, jenes Teilchen, das Masse überträgt, ist das Higgs-Boson. Ohne dieses 'Teilchen könnte Masse nicht wirken; es gäbe weder Waagen noch Weight-Watehers. „Als das Universum immer mehr abkühlte und sich die schwache und die elektromagnetische Kraft trennten, fror das Higgs-Boson gewissermaßen aus”, vergleicht Eberl, der von der Existenz des vieldiskutierten Teilchens überzeugt ist.

Bald wird sich herausstellen, ob es das Higgs-Boson tatsächlich gibt oder ob die Physiker das Standardmodell völlig umkrempeln müssen. Der LEP, der derzeit größte 'Teilchenbeschleuniger der Welt am internationalen Forschungszentrum CERN, soll im Jahr 2000 seine letzte Ausbaustufe erreichen. Dann wird dort mit Energien hantiert, bei denen das Higgs-Boson auftreten könnte - aber nicht muß. Voraussichtlich im Jahre 2005 geht der LHC in Betrieb, ein noch mächtigerer Teilchenbeschleuniger, der in den ringförmigen Kanal eingebaut wird, der heute noch den LEP beherbergt. „Dann schlägt für die Theorien der Teilchenphysiker die Stunde der Wahrheit”, sagt Gerhard Leder, Leiter des österreichischen Projektes des Delphi-Experiments am LEP, bei dem im Vorjahr ein W+-W -Bosonenpaar erzeugt werden konnte - keine Entdeckung, aber ein Achtungserfolg.

Auch Meinhard Regler arbeitet am LEP in CERN mit. Er entwickelt mathematische Instrumentarien, mit denen die anfallende Datenflut analysiert werden kann. Obwohl er nicht daran glaubt, hofft er dennoch auf die Entdeckung des Higgs-Bosons - möglichst noch am LEP in seiner letzten Ausbaustufe: „Das wäre die Krönung meiner wissenschaftlichen Laufbahn. Dann nämlich gehe ich in Pension.”

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